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Archiv-Artikel

Der Wahnsinn hat Methode

Die Ausstellung „Learning from *“ in Berlin probt alternative Sichtweisen auf städtische Realitätenin Zeiten der Globalisierung. Entsteht in scheinbarem Chaos gar eine neue solidarische Ökonomie?

Die favorisierte Überlebensstrategie im urbanen Raum: Selbstorganisation

von DIETMAR KAMMERER

Albtraum Megacity oder Utopie der Civitas? Geht es um die Zukunft der Städte, so zerfällt die Diskussion in das Lager der Apokalyptiker und das der Optimisten.

Die einen zeichnen ein katastrophisch geprägtes Szenario explodierender Millionenstädte mit kaum steuerbarer Dynamik, die sich den regulierenden Kräften von Polizei, staatlicher Verwaltung oder Privatwirtschaft durch schieres Wachstum entziehen. Die anderen beschwören im Rückgriff auf ein idealisiertes Modell der „europäischen Stadt“ ein Leitbild, in dem die bürgerlichen Errungenschaften des 19. Jahrhunderts die Ungemütlichkeiten des globalisierten 21. Jahrhunderts ausbremsen sollen. Gemeinsam ist beiden die Diagnose: Was an der Peripherie in Megacities wie Lagos, Mumbai oder Rio de Janeiro geschieht, ist die reine Anarchie.

Keinen Brückenschlag zwischen diesen Positionen, sondern eine alternative Sichtweise auf „städtische Realitäten jenseits einer europäisch verstandenen Civitas“ unternimmt demgegenüber die aktuelle Ausstellung „Learning from *“ in der Berliner Neuen Gesellschaft für Bildende Kunst (NGBK). Denn anstatt sich auf einer vermeintlich klaren Trennlinie von Ordnung (Westen) und Chaos („Dritte Welt“) auszuruhen, begeben sich die Ausstellungsmacher auf die Suche nach „Organisationsformen innerhalb vermeintlich chaotischer Strukturen und irregulären Momenten inmitten scheinbarer Ordnungen“.

Das Ergebnis, frei nach Shakespeare: Der Wahnsinn hat Methode. Nicht Anarchie, sondern informelle Selbstorganisation prägt die Überlebensstrategien der globalisierten Stadtbevölkerung. Und zwar nicht nur im „globalen Süden“. Auch die europäische Stadt ist zunehmend von einer „globalen Normalität“ von Armutsökonomie, privatwirtschaftlich überwachten Arealen und einer Militarisierung des städtischen Lebens durchzogen, die die Norm einer zumindest im Westen noch friedlich geordneten Zivilgesellschaft zunehmend als Phantasma erscheinen lassen.

So beschreibt Michael Zinganel in seiner Installation „We are building security“ am Beispiel von Archivbildern und dem historischen Diavortrag „Durch die Quartiere des Elends“ eine Kontinuität von Segregationsmechanismen, von der Vertreibung der Proletarier in die Vorstädte im Wien des 19. Jahrhunderts über die flächendeckende permanente Videoüberwachung der City of London bis hin zum temporären Ausnahmezustand während des G 8-Gipfels in Genua, als zum Schutz einer Hand voll Politiker eine ganze Stadtbevölkerung Ausgehverbot erhielt.

Margareth Otti andererseits hat in „Learning from Arizona Market“ eine prosperierende (Schatten-)Ökonomie in einem „gesetzlosen“ Niemandsland gefunden. Im nordbosnischen Distrikt der Stadt Brèko ist entlang der „Arizona Road“ – so genannt, weil die dort stationierten Uno- und Sfor-Truppen zur besseren Orientierung den Straßen die Namen einer ihnen vertrauen Geografie übergestülpt haben – einer der größten Schwarzmärkte Osteuropas entstanden. Der Brèko-Disktrikt ist ein Territorium ohne völkerrechtlich gesicherten Status, der nach dem Dayton-Abkommen als Pufferzone oder „Zone of Separation“ zwischen den ethnisch gegliederten Teilrepubliken eingerichtet worden ist und unter Sfor-Aufsicht steht.

Ausgerechnet in diesem Quasizustand, der räumlich ein Dazwischen und zeitlich eine Übergangslösung darstellen soll, hat sich eine funktionierende Ökonomie etabliert, in der genauso Handel mit Kleidung und Lebensmitteln wie mit Prostituierten betrieben wird. Dabei zeigt Otti in ihrer Installation nicht nur die Selbstorganisation und -regulation, die auf Korruption, mafiosen Strukturen und Ausbeutungsverhältnissen beruht, sondern auch das Nachfolgemodell: Weil sich der Schwarzmarkt längst als feste wirtschaftliche Größe etabliert hat, soll nach dem Willen der lokalen Verwaltung und der UNO-Vertreter am Ort das „luxuriöseste Shoppingcenter in Südosteuropa“ nach westlichem Vorbild entstehen.

Solche Transformation des Informellen in formelle Strukturen würde aber keineswegs zu einer Besserstellung der an der Schattenökonomie Beteiligten führen. Wie Elmar Altvater und Birgit Mahnkopf in ihrem Beitrag zum Begleitband der Ausstellung aufzeigen, gehorcht sie vielmehr der Logik eines neoliberalen Blicks, der selbstorganisierte Überlebensstrategien, die aus dem Zerfall oder dem Rückzug staatlicher Strukturen im urbanen Raum entstanden sind, in den Rang eines verallgemeinerbaren Modells heben möchten, nach dem Motto: Wenn es dort ohne Staat funktioniert, dann doch wohl auch hier. Die Perfidie der Alternativlosigkeit: Gerade der Ausschluss aus „regulären“ ökonomischen Zusammenhängen bedingt den Einschluss, die noch rigidere Unterwerfung unter neoliberale Zwangsverhältnisse.

Vor solch einem „Neoliberalismus von unten“ warnen die Autoren, die eine „strukturelle Ähnlichkeit“ zwischen der Schattenwirtschaft des informellen Sektors der Südhalbkugel und den prekären Beschäftigungsverhältnissen in den neuen Formen von (schein-)selbstständiger Arbeit in den westlichen Industrieländern ausmachen. Dennoch setzen Altvater und Mahnkopf ihre Hoffnung auf eine „solidarische Ökonomie“, die aus dem informellen Sektor entstehen könnte, nicht als Korrektur, sondern als Alternative zur „Globalisierung der Unsicherheit“.

Die Ausstellung „Learning from *“ ist noch bis zum 17. Oktober in Berlin zusehen. Dazu ist in der Reihe <metroZones> im b_books Verlag, Berlin einBegleitband erschienen