: Kein Frieden mit Clans
Der Konflikt in Tschetschenien wird nur gelöst, wenn alle gesellschaftlichen und politischen Interessengruppen Vertretung in einem frei gewählten Parlament finden
Der Überfall auf eine Schule in einer Stadt in Nordossetien ist zu einem seltsamen Indikator für die Spannungen in den Beziehungen zwischen Russland und Tschetschenien geworden. Trotz aller Versuche des offiziellen Kreml so zu tun, als gäbe es keine Gegensätze zwischen beiden Staaten, stieß die Geiselnahme, bei der hunderte von Menschen starben, in der ganzen Welt auf starken Widerhall. Nach all dem, was geschehen ist, ist nicht mehr zu leugnen, dass es einen Krieg in Tschetschenien gibt. Die Gegensätze sind unverkennbar vorhanden, und zwar unabhängig davon, welche Form der Kampf annimmt.
Nach Beslan wurde deutlich, dass der zwar zahlenmäßig geringere, jedoch aktivere und radikalere Teil der tschetschenischen Bevölkerung den Kampf für die Unabhängigkeit nicht aufgeben würde. Dies war, nach dem Überfall auf Inguschetien am 22. Juni und dem Überfall auf Grosny am 21. August, bereits der dritte große Terrorakt in den letzten drei Monaten. Das bedeutet, dass die Politik des Kreml – die „Tschetschenisierung des Konflikts“ – falsch war und geändert werden muss. Bis jetzt wurde in Tschetschenien die alte Taktik der Eroberung von Völkern angewandt: Die loyalsten Vertreter der Einwohner vor Ort wurden ausgewählt, nur mit ihnen wurden Verhandlungen geführt. Dass hier nicht alle Vertreter des gesamten politischen Spektrums, einschließlich der Kämpfer, einbezogen wurden, hat letztlich zu der Tragödie in Beslan geführt.
Es gibt zahlreiche Pläne zur Befriedung des Konflikts in Tschetschenien, die auf die ein oder andere Weise die Vereinten Nationen zur Konfliktlösung heranziehen möchten und der Republik in verschiedenen Bereichen Selbstständigkeiten übertragen möchten. Das Problem dabei ist, dass keiner dieser Pläne dem Kreml gefällt, weil sie allesamt bedeuten, dass Russland sich aus Tschetschenien zurückziehen müsste und westliche Drittländer beteiligt würden.
Es ist unrealistisch zu glauben, dass der Kreml solche Konzessionen akzeptieren wird. Ansonsten würde das offizielle Moskau die Forderungen der Terroristen erfüllen, die den Überfall auf die Schule in Beslan durchgeführt haben. Deren Forderungen entsprachen im Grunde dem, was der „Chasbulatow-Plan“ vorsah. Die Terroristen stellten für die Freilassung der Geiseln fünf Bedingungen: Putin sollte die Verordnung über die Beendigung des Krieges in Tschetschenien unterzeichnen; das Militär sollte abgezogen werden; Tschetschenien sollte als unabhängiger Staat Mitglied der GUS werden; Tschetschenien sollte Mitglied der Rubelzone bleiben; die Friedenstruppen der GUS sollten in Tschetschenien und dem Nordkaukasus eingesetzt werden.
Doch mit der Verheimlichung dieser Forderungen beim Sturm auf die Schule zeigte der Kreml erneut, dass er nicht bereit ist, seine Politik zu ändern. Denn schließlich ist Russland kein großes Imperium, das sich solche „Geschenke“ leisten kann. Ein Rückzug Russlands aus dem Kaukasus, dessen Beginn die Gewährung irgendeiner Form von Unabhängigkeit für Tschetschenien markieren könnte, hätte das Potenzial, ein ähnlicher Schlag wie der Zusammenbruch der Sowjetunion zu werden.
Das bedeutet, dass der Kreml Tschetschenien weiterhin finanzieren wird, womit er sich einerseits die Loyalität eines Teils der Bevölkerung der Republik erkauft, und gleichzeitig die Repressionen gegenüber dem anderen Teil verstärkt – das muss zu unversöhnlichen Gegensätzen führen.
Der einzig mögliche Weg wäre ein Kompromiss. Der würde so aussehen, dass eine vollständige Amnestie für alle Kämpfer, einschließlich der radikalen wie Schamil Bassajew, erlassen und gleichzeitig deren Teilnahme am politischen Leben der Republik ermöglicht würde. Es ist klar, dass nach all den Terrorakten in Russland und weltweit die Möglichkeiten für Verhandlungen mit den Terroristen praktisch nicht vorhanden sind. Doch will man ein weiteres Beslan verhindern, ist es in diesem Falle notwendig, eine Ausnahme und dem radikalen Flügel der tschetschenischen Separatisten einige Konzessionen zu machen.
Putin sollte sein Ehrenwort zur Garantie ihrer persönlichen Sicherheit geben. Und damit diese politische Beteiligung nicht zu einer Farce wird, sollte die Verfassung der Republik geändert werden. Der Kreml sollte eine Zentralisierung der Macht in der Republik ablehnen und eine parlamentarische Regierung einführen. Das heißt, Tschetschenien wird keine präsidiale, sondern eine parlamentarische Republik, und alle politischen Kräfte der Republik sollten an den Wahlen zum Parlament beteiligt werden.
Zum Ersten wird mit diesem Kompromiss ausgeschlossen, dass die so genannten Kriegsparteien – die Truppen der Föderation – Gelegenheit erhalten, Einfluss auf das Leben in der Republik zu nehmen. Angesichts der Erklärungen der russischen Generäle, wonach sie den Krieg in der Republik bis zum letzten Kämpfer fortsetzen wollen, drängt sich der Verdacht auf, dass sie planen, in Tschetschenien den Ausnahmezustand herbeizuführen, was die Möglichkeit zum Einsetzen eines militärischen Verwalters der Republik, eines Generalgouverneurs, eröffnen würde. Falls die Version stimmt, dass Kadyrow bei einem Attentat umkam, würde nach Einführung einer parlamentarischen Regierungsform in Tschetschenien das Funktionieren der Staatsmacht durch eine Intervention des Militärs nicht behindert. Die physische Eliminierung des gesamten Parlaments ist unmöglich.
Zum Zweiten wird in Tschetschenien, laut offiziellen Quellen, seit mittlerweile fast vier Jahren ein System der Staatsgewalt geschaffen, das im Einklang mit der russischen Verfassung steht. Es werden eine Regierung und präsidiale Strukturen errichtet, mit denen das Versprechen aufrechterhalten wird, dass in der Republik Parlamentswahlen durchgeführt werden. Wesentlich ist allerdings bei der scheinbar demokratischen Staatsgewalt der Tschetschenischen Republik in Wahrheit etwas anderes. Die Macht in Tschetschenien teilen sich letztlich verschiedene Clans, die streng darauf achten, dass die bisherige Lage und ihre eigene privilegierte Situation aufrechterhalten bleiben. Daher kann man sagen, dass das Clansystem in der derzeitigen Staatsgewalt heute das wichtigste Hindernis auf dem Weg zur Normalisierung der Bedingungen in Tschetschenien darstellt.
Doch diese Situation hat außerdem einen anderen, nicht weniger wichtigen Aspekt, der den inneren Dialog in Tschetschenien behindert. Es gäbe wohl deutlich weniger Leid, wenn die tschetschenische Gesellschaft lediglich in Separatisten und „Russen“, das heißt prorussische Elemente, aufgeteilt wäre. Das Problem heute liegt darin, dass jedes dieser beiden Lager seinerseits wiederum nicht nur in gewissermaßen „Moderate“ und „Extremisten“, sondern auch in viele andere politische Gruppierungen unterteilt ist, die einen deutlichen Clan-Charakter aufweisen.
Aus diesem Grund wird durch die Konzentration der Macht in den Händen eines Clans (der so genannte Kadyrow-Clan) gar nichts verändert. Die wichtigste Schwäche dieses Clans liegt darin, dass angesichts der gegenwärtigen Bedingungen, nämlich einer tiefgehenden inneren Aufsplitterung, eine solche Gruppe lediglich die Interessen eines kleinen Ausschnitts aus der tschetschenischen Gesellschaft vertreten kann.
Mit dem Parlament wird vielen politischen Gruppierungen eine Arena zur politischen Betätigung geboten. Es ist klar, dass zumindest am Anfang nur der prorussische Teil der tschetschenischen Gesellschaft im Parlament vertreten sein wird. Doch, wie bereits gesagt, ist selbst dieser Teil des politischen Spektrums in Tschetschenien keineswegs einheitlich, sodass das Parlament der Ort werden kann, an dem verschiedene Gruppierungen zum ständigen Meinungsaustausch und Dialog zusammenkommen. Hier wird die Exekutivmacht gezwungen, die legalen Gegner anzuhören. Und schließlich wird sich in der politischen Arena des Parlaments Folgendes entwickeln: erstens eine Konsolidierung des prorussischen Teils der politischen Gruppierungen in Tschetschenien; zweitens die Ausarbeitung eines gemeinsamen Ansatzes gegenüber der föderationsfreundlichen Mitte und dem separatistischen Flügel.
Alles dies ist essenziell für die Überwindung der Krise und somit auch für die Zukunft Tschetscheniens.
Doch wäre das Ergebnis ein Kompromiss, der für beide Teile, die prorussische wie die tschetschenische Seite, nicht zufrieden stellend wäre. Deshalb ist diese Variante nur eine Übergangslösung. TIMUR ALIJEW
Aus dem Englischen von Beate Staib