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Archiv-Artikel

Jemand spricht und es wird hell

Wenn man auf der Tanzfläche plötzlich das Gefühl hat, sich künstlich zu bewegen statt natürlich, sich dann bemüht, die eigene Künstlichkeit zu vergessen, dabei natürlich weiß, dass man noch künstlicher wird: Über einige Gefühlsschwankungen und Selbstbeobachtungszwänge im Herbst

Zwischen Morgen und Mittag ging die Zeit spazieren, plötzlich war es Nachmittag

Schon wieder war Herbst und alles schien seltsam und gleichzeitig banal, denn das, was einem seltsam am Herbst erscheint, das unentschieden Zwischenjahreszeitenhafte, die Trostlosigkeitsandeutungen an grauen Tagen, die pathetisch übertriebenen Farben an schönen Tagen, ist ja das Normalste und eigentlich nicht der Rede wert.

Andererseits tendiert man wie das Wetter auch selber zu entschiedenen Gefühlsschwankungen; tagsüber und nachts sowieso, wenn man ausgeht mit neuen Freunden zum Beispiel und auf der Tanzfläche plötzlich das Gefühl hat, sich künstlich zu bewegen statt natürlich (authentisch und offen), sich dann bemüht, die eigene Künstlichkeit zu vergessen, dabei natürlich weiß, dass man noch künstlicher wird, wenn man sich zu sehr darauf konzentriert, wieder natürlich zu werden. Ist schon schwierig und schön alles und ein bisschen fühlt man sich wie der Neue in der Klasse; kurz scheint es einem ja auch so, als wäre das Unnatürliche viel normaler, also natürlicher, als der krampfhafte Versuch, sich in der Musik zwischen den Leuten zu verlieren.

So versinkt man für Momente im eigenen Kopf. Dann macht man wieder die Augen auf, denkt kurz an Freud und seinen schönen Satz „Wenn jemand spricht, wird es hell“. Einerseits ist es zu laut zum Sprechen, jedenfalls kann man sich nicht vorstellen, dass es hell wird, wenn man jemandem was ins Ohr sagt, andererseits wird es auch hell, wenn jemand so halb selbstvergessen lächelt beim Tanzen. Eine Weile ist man dabei, kurz wurde es sogar Sommer, als S. aufmunternd „hey“ sagte, dann wackelt die Verbindung zu den anderen wieder, zu dem Tohuwabohu um einen herum, und dieser Selbstbeobachtungszwang setzt wieder ein; man nimmt sich nicht mehr von innen heraus wahr, man sieht sich stattdessen eher von außen, obgleich alles so schemenhaft hellneblig ist.

Dann geht man ein wenig im Club spazieren, grüßt da und dort Passanten und dann geht’s wieder. Ritchie Hawtin und Ricardo Villalobos bemühten sich auch und wir versuchten am Rande authentisch zu reden, also irgendwie unaufgesetzt. Ihre ABM wäre nun zu Ende; mal sehen, wie’s weitergeht, sagte S., H. musste die nächste Woche in Lübben arbeiten – viel Spaß dann auch – und jemand sang plötzlich ein Doors-Lied – „People are strange, when you’re a stranger.“ Später, am Vormittag in der Wohnung, kam ein anderer, der so aussah wie das frisch geduschte Leben, und brachte viele Schachteln Manitou-Zigaretten. Zwischen Morgen und Mittag war die Zeit spazieren gegangen und plötzlich war es Nachmittag und wir saßen am Fenster und schwiegen. Der Kopf war leer. Wieso war da Sonne draußen? Später war sie wieder weg und wir tranken Jägermeister und spielten am nächsten Tag Tischtennis wie immer.

Wie immer lag der Sportteil des Tagesspiegel auf dem Tisch und wir unterhielten uns, aus welchem Grund auch immer, über die Pubertät, und J., eine glückliche Arbeitslose sozusagen, ließ als arrivierte Erwachsene die Schrecken der Pubertät noch einmal Revue passieren, das Sich-nicht-zu-Hause-Fühlen im eigenen Körper, diese unglaublichen intensiven Gefühle und Gefühlsschwankungen, denen man so als Teenager ausgesetzt wäre, und zum Glück sei das ja längst vorbei, und man dachte so für sich, nun denn, na ja, für dich vielleicht. DETLEF KUHLBRODT