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Archiv-Artikel

Mama Bock stellt keine Fragen

Die Wohnungen kosten Bock 10.000 Euro im Monat – wenigstens half ihr die Soli-Aktion „Bock auf Bier“

aus Wien RALF LEONHARD

Zu „Mama Bock“ geht es über die Treppe ins Tiefparterre, so verkündet es ein mit Textmarker geschriebener Zettel an der Tür. Im engen Gassenlokal in der Wiener Zollergasse drängen sich zwei Dutzend junge Afrikaner. Die einen sitzen an Computern und surfen im Internet oder jagen virtuelle Agenten, die anderen sitzen herum und palavern. „Mama Bock“ ist für sie die Adresse, unter der sie Zuflucht zu finden hoffen oder wo ihnen schon geholfen wurde.

Ute Bock ist nicht das, was man sich unter einer Powerfrau vorstellt. Klein, zierlich gebaut, die kurzen grauen Haare zu einer unprätentiösen Dauerwelle geformt, könnte sie genauso gut Lehrerin sein wie Rathausbeamtin. Sie versteht die Energie, die in ihr steckt, unter Kontrolle zu halten. Auf die Frage nach ihrem Beruf antwortet sie ohne langes Nachdenken: „Pensionistin.“ Vor einem Jahr wurde die ehemalige Leiterin eines Gesellenwohnheims in den Ruhestand geschickt. In dem Heim leben Jugendliche in Berufsausbildung, die kein Elternhaus haben oder aus irgendeinem Grund nicht zu Hause wohnen wollen oder können.

Die eigentliche Geschichte der Ute Bock beginnt erst um 1995, als die ersten Afrikaner im Gesellenwohnheim in der Wiener Zohmanngasse vorstellig wurden. Es waren Flüchtlinge, die ohne Eltern reisten. Und da das Gesetz vorschieb, unbegleitete jugendliche Ausländer in Jugendheimen unterzubringen, landeten viele im Gesellenwohnheim. Schwarzafrikaner waren zu dieser Zeit in Wien seltene Exoten. Der Staat versprach, sich um die gestrandeten Jugendlichen zu kümmern und ihnen auch eine Ausbildung angedeihen zu lassen. „Dann hat man gesehen, es sind sehr viele“, sagt Ute Bock trocken. Die Reaktion der Behörden: Man versuchte, die unwillkommenen Gäste wieder loszuwerden.

Das Etikett „Gutmensch“, das all jenen, die sich für die Menschenrechte von Ausländern und anderen Minderheiten einsetzen, von den Rechtsparteien gerne aufgeklebt wird, passt auf Ute Bock nur bedingt. Sie will es einfach nicht hinnehmen, dass Menschen wie Dreck behandelt werden. Das war schon so, als sie in den 60er-Jahren als junge Erzieherin an ein Sonderschulkinderheim in Biedermannsdorf bei Wien kam. „Viele Erzieher dort waren alte SS-ler, die die Kinder geprügelt haben.“ Lange bevor der Begriff „schwer erziehbar“ durch den politisch überkorrekten Terminus „verhaltensauffällig“ ersetzt wurde, war ihr klar, dass schwierige Kinder Liebe und Verständnis statt Zucht und Strafe brauchen. „Ich habe einen Vogel, drum bin ich dabei geblieben.“ Sie bedauert die Entscheidung nicht, das sieht man ihr an, wenn sie sagt: „Ich hätte im Rathaus sitzen können und Dokumente stempeln.“

Ute Bock sah sich anfangs von der fremdländischen Klientel völlig überfordert. Ihr Schulenglisch, das sie nach 40 Jahren ausgraben musste, ermöglichte keine differenzierte Unterhaltung. Aber die meisten konnten ein wenig Deutsch, das ging dann schon. Jugendliche in Frau Bocks Obhut konnten sich darauf verlassen, dass sie irgendeine Ausbildung bekamen, sei es eine Lehre, einen Hauptschulabschluss oder zumindest einen Deutschkurs. Schon damals fürchtete man im Innenministerium, gute Behandlung könnte weitere Flüchtlinge anziehen. Jeder Integrationsschritt soll vermieden werden. Schließlich will man die Leute rasch wieder loswerden.

Mama Bock stellte keine Fragen. Sie fragte nicht nach dem Alter und stellte auch keinen zur Rede, der angeblich aus dem Bürgerkriegsland Sierra Leone geflohen war, aber jede Woche Post aus Nigeria bekam. Nigerianer haben in Österreich kaum Aussicht auf politisches Asyl. Ein Teil des Drogenhandels in Wien liegt in der Hand einer nigerianischen Mafia. Der Generalverdacht, Teil dieser Mafia zu sein, haftet Nigerianern daher an wie eine Erbsünde. Also sprach sich bald herum, dass es günstiger sei, seine Papiere zu verlieren und sich als Staatsangehöriger eines anderen Landes auszugeben.

Anfangs wurde Ute Bock vom Sozialamt unterstützt. Wer eine vorläufige Aufenthaltsgenehmigung hat, dem kann das Amt Sozialhilfe gewähren. „Eine Ermessensentscheidung“, sagt Frau Bock. Sie trieb bei der zuständigen Bearbeiterin Geld auf, um zusätzliche Wohnungen anzumieten, den Flüchtlingen eine Monatskarte für die U-Bahn zu besorgen und ihnen ein bescheidenes Taschengeld zu zahlen. Inzwischen hat sich die Lage geändert. „Die Dame gibt es dort nicht mehr. Jetzt krieg ich gar nichts mehr.“

21 Afrikaner lebten unter dem Schutz von Ute Bock im Gesellenwohnheim, als im September 1999 die „Operation Spring“ wie ein Tornado hereinbrach. Im Zuge einer Großrazzia wurden alle Schwarzen festgenommen. Wenige Monate vorher war der Nigerianer Marcus Omofuma bei seiner Abschiebung an seinem Knebel erstickt. Das Innenministerium stand unter Zugzwang, zu beweisen, wie tief afrikanische Asylwerber in den Drogenhandel verstrickt sind. Gefunden wurde nichts. Dennoch kamen die meisten erst nach Monaten wieder frei. „Wir wissen, die Afrikaner bunkern das Zeug woanders“, hieß die Rechtfertigung. „Warum macht ihr dann so was?“, fragte Ute Bock angesichts der 21 eingetretenen Türen, der aufgeschlitzten Matratzen und demolierten Wandverkleidungen: „Das war völlig unnötig. Ich hätte ihnen alle Türen aufgesperrt.“

Einer sagte, er sei aus Sierra Leone – und bekam Post aus Nigeria. Bock schwieg. Dann kam der eben aus Nigeria

Seit Ute Bock pensioniert wurde, gibt es in der Zohmanngasse keine Afrikaner mehr. Jetzt mietet sie auf eigene Kosten 23 Kleinwohnungen an, um zumindest einen Teil der obdachlosen Afrikaner unterzubringen. In der Regel müssen sich drei, manchmal vier eine Zweibettwohnung teilen. Einer davon ist der 24-jährige Victor E. aus Nigeria. Mit seinem Landsmann Kelly Brown und David Oko aus Sierra Leone teilt er sich rund 30 Quadratmeter in einem ehemaligen Schwesternwohnheim. Ein Fernseher mit Videogerät und einem Dutzend VHS-Kassetten nimmt den Großteil des Wohnraums ein. Die Küche ist sauber, der Kühlschrank fast leer. Victor E. kommt aus dem Süden Nigerias, wo die Ölförderung die traditionell verfeindeten Volksgruppen noch stärker gegeneinander aufgebracht hat. Sein Vater, ein politischer Aktivist, wurde ermordet, das Haus niedergebrannt, die restliche Familie in alle Winde zerstreut. Über einen Freund wurde Victor auf ein Schiff und dann nach Österreich geschleust. Er würde gerne bleiben und in der Bundesliga Fußball spielen. Mehrere Klubs haben auch Interesse gezeigt. Da er keine Papiere hat, will ihn aber keiner nehmen. So spielt er bei einem Regionalligaklub. Obwohl er den bereits in die nächsthöhere Liga geschossen hat, bekommt er nur 50 Euro pro Match und weitere 15 für jedes Training. „Ich soll mir eine Frau suchen. Wenn ich heirate, dann darf ich bleiben und arbeiten.“ Tatsächlich ist die Eheschließung mit einer Österreicherin für die meisten der einizige Weg zu einer Aufenthaltsgenehmigung. So streunt Victor E. mit seinen Freunden durch die Parks von Wien und spricht Frauen an, die einsam aussehen. Er weiß schon: „Junge Frauen haben nie Zeit. Man muss sich an die reiferen halten.“ Dabei läuft er ständig Gefahr, von der Polizei gefilzt oder zur Leibesvisitation aufs Kommissariat geschleppt zu werden.

Ute Bock bekommt keinerlei öffentliche Unterstützung für ihre Aufwendungen, die eigentlich Sache der Behörden wären. Jeder Asylwerber hat Rechtsanspruch auf Bundesbetreuung. Doch die meisten werden auf die Straße gesetzt. „Dass sie dann von den Drogenhändlern angeworben werden und die Frauen auf den Strich gehen, darf niemanden wundern“, meint Ute Bock. Sie ist nicht nur um das Schicksal der Verstoßenen besorgt, sie denkt einfach auch an das Gemeinwohl. Sie will nicht, dass aus den Hilfe suchenden Menschen Asoziale werden, „die trinken und alten Frauen die Handtaschen wegnehmen“. Immerhin wurde sie von der Organisation SOS Mitmensch adoptiert. Sie bekam dort einen Schreibtisch und und das kleine Gassenlokal mit den PC-Terminals.

Die rund 10.000 Euro, die allein die Wohnungsmieten monatlich kosten, muss Ute Bock allerdings allein aufbringen. Drei Monate lang führten 68 Wiener Lokale unter dem Motto „Bock auf Bier“ pro Krügel Bier 10 Cent an das Projekt ab. Im September bekam man in Wien „Bock auf Kultur“: Konzerte, Lesungen, ein Umtrunk im Palmenhaus. Der Erlös aller Veranstaltungen in Szenelokalen geht an „Mama Bock“.

Eigene Kinder hat „Mama Bock“ nicht zur Welt gebracht. Auch verheiratet war sie nie. Und von Fernweh, das oft jenen anhaftet, die viel mit Menschen aus der Fremde zu tun haben, ist bei ihr keine Rede. Nein, in Afrika sei sie noch nie gewesen. Sie habe auch nicht den Wunsch, den Kontinent kennen zu lernen. An Einladungen fehle es nicht. Jedes Mal, wenn sie gefragt wird, wann sie denn die Heimat ihrer Schützlinge besuchen wolle, antwortet sie schroff: „Was soll ich dort? Wenn es dort so schrecklich ist, dass ihr fliehen müsst, warum sollte ich dann hinfahren?“