: Schule braucht Selbstverwaltung
Das deutsche Schulsystem braucht einen demokratischen Neubeginn. Dazu gehören unter anderem niedrigere Gehälter für Lehrer – und die Abschaffung des Beamtenstatus
Zwei Jahrhunderte, nachdem Immanuel Kant die Frage: „Was ist Aufklärung?“ beantwortet hat, sieht Schulpolitik in einer Demokratie so aus: Nach Fürst und Pfarrer diskutieren nun auch Fernsehmoderatoren über die richtige Lehrerfrisur, Regierung und Opposition streiten sich im Parlament um die fachgemäße Schreibschrift und 16 hoch bezahlte Kultusminister einigen sich unter großem Getöse auf die für jeden Zehntklässler unverzichtbare Unterscheidung zwischen Roman und Novelle.
Die Hauptgründe für die Schulmisere aber bleiben unerwähnt: Den Schulen mangelt es an Möglichkeiten zur Selbstverwaltung. Deren Einführung aber würde genau die Administration überflüssig machen, die sie einzuführen hätte. Ein weiteres Problem: Die Eltern und Schüler haben sich unter dem Einfluss von medialer Überreizung, Selbstverwirklichungs- und Konsumidealen verändert. Es gibt mehr schwer oder gar nicht beschulbarer Kinder, weil die Bevölkerungsteile, die versuchen würden, ihren Nachwuchs gegen diese Einflüsse zu immunisieren, weniger Kinder kriegen. Gleichzeitig gibt sich das Bildungsbürgertum als Elite und erhebt einen asozialen Anspruch darauf, dass seine Brut mit dem übrigen Pack nicht in Berührung zu kommen hat.
Die Probleme der Schulen liegen also auf der Hand – und ebenso die Konzepte, wie sie zu beheben wären. Die Schulen brauchen einen demokratischen Neubeginn, der mittels eines Zehnpunkteplans angestoßen werden könnte:
Erstens: Entstaatlichen Sie, so weit sie können. Überlassen Sie zum Beispiel die Frage nach dem richtigen Schultyp sowie die ganze Finanzierung den Gemeinden – und geben sie denen endlich das ihnen zustehende Geld: Menschen leben nicht in Nordrhein-Westfalen oder Deutschland, sondern vor allem in Städten oder Landkreisen, die zur Zeit gar nicht in der Lage sind, ihren Bürgern zu helfen.
Zweitens: Kümmern Sie sich um die Lernstandards, ihre Überprüfung und Einhaltung und von mir aus auch um die Formulierung von Abiturthemen. Das muss nicht Zentralabitur heißen: Ich werde sehr gespannt sein, wie die „konkreten unterrichtlichen Voraussetzungen“ nun von den Leuten präzisiert werden sollen, denen ich sie bisher benennen muss.
Drittens: Stärken Sie die Schulleitungen. Stellen Sie sicher, dass sie rechtlich und auch de facto in der Lage sind, ihnen ungeeignet erscheinende Lehrkräfte auch kurzfristig abzulösen. Überlassen Sie es auch weitestgehend ihnen, wen sie zu welchen Bedingungen einstellen. Stellen Sie lediglich sicher, dass die Schule ein der Gemeinde gegenüber autonomes Subsystem wird und bleibt. Und, dass weder der Hausmeister noch der Kulturdezernent das Schulprogramm bestimmen.
Viertens: Der Lehrer soll unterrichten, muss aber nicht gleichzeitig Klausuraufgaben stellen und Arbeiten bewerten. Dafür wird seine Rolle als Pädagoge gestärkt, indem er, möglicherweise hin bis zu Fragen der Kindergeldgewährung oder–-etwa bei Alleinerziehenden – auch der Vormundschaft, Eltern in die Verantwortung nehmen kann. Koordinieren sie die gesamte Jugend- und Weiterbildungsarbeit an und in den Schulen: In vielen Stadtteilen und Gemeinden könnten so Schulen unter Einbeziehung von Vereinen oder Kirchen zu Zentren des gemeinschaftlichen Lebens werden.
Fünftens: Splitten Sie den Lehrerberuf in eine Trainer- und eine Kontrollerfunktion. Der Kontroller ist der ideale Ansprechpartner für alle Evaluationsfragen, hat mit den ihm zugeordneten Unterrichtenden die wesentlichen Curriculumsfragen geklärt, ist für Korrektur und Bewertung zuständig und somit der ideale Platz für alle, die zwar Lehrer bleiben möchten, aber nicht mehr pausenlos an der Front stehen. Die Übergänge sind fließend und alle arbeiten möglichst autonom an der gleichen Schule.
Sechstens: Halten Sie sich aus der Lehrerausbildung heraus, schließen Sie die Seminare und überlassen Sie das meiste älteren und erfahreneren KollegInnen. Denen kommt damit, wenn sie erfolgsorientiert arbeiten, auch Altersentlastung zu und die Möglichkeit, der nächsten Pädagogengeneration Tricks und Hilfen bei den basalen Unterrichtstechniken auf den Weg zu geben.
Siebtens: Senken Sie die Gehälter, schaffen sie den Beamtenstatus ab und seien sie nicht allzu anspruchsvoll bei der Eingangsqualifikation: Wer nichts taugt, fliegt nach spätestens sechs Monaten. Der Lehrerberuf ist eher ein Handwerk als eine Wissenschaft. Schmeißen sie also auch alle Forscher und Weiterbilder raus oder sorgen Sie dafür, dass sich Stiftungen oder Universitäten um sie kümmern.
Achtens: Geben Sie den Klassen- und Schulpflegschaften mehr Möglichkeiten zur konkreten Einflussnahme. Es wäre tatsächlich nicht schlecht, wenn (so wie es auf dem Papier des Schulmitwirkungsgesetzes steht) auf einer Klassenpflegschaftssitzung die Fachlehrer die Pläne für ihre Arbeit den Eltern vorlegen und erläutern müssten.
Neuntens: Stellen Sie sicher, dass Eltern die Lehrer zwar nicht herumkommandieren, notfalls aber ihre Ablösung bis hin zur Abwahl aus Schulleitungsfunktionen erreichen und die Gemeinden zur Einhaltung von hygienischen und anderen Standards verpflichten können. Spätestens dann kann jede mündige Population in einer Demokratie selbst entscheiden, ob man Lehrerinnen mit/ohne Kopftuch oder Klassenräume mit/ohne Kruzifix haben möchte.
Zehntens: Nehmen Sie allen, die im jetzigen System arbeiten, die Furcht, dass jeder denkbare Umbau – der in diesem Fall wohl kaum in ein bis zwei Jahren durchgeführt werden kann – einen Einfluss auf einmal erreichte Karrieren oder ihren Einkommenslevel haben könnte. Wie viel die Kommunen dann den Neueinstellungen zahlen, regelt ohnehin der Markt.
Und: Trösten Sie sich, wenn Sie jetzt keine Schulpolitik mehr fabrizieren können. Stattdessen haben sie dafür gesorgt, dass Bildungsstandards nicht nur verkündet, sondern auch erreicht werden. Und nicht zuletzt wäre es Ihnen zu verdanken, dass Lehrerinnen und Lehrer in diesem Lande sich bei der Angabe ihres Berufs nicht mehr genieren müssen. Und, dass Eltern wie Schüler zu ihrem Recht kommen.
Die staatliche Garantie, überall gleiche Bedingungen zu schaffen, ist zwar eine gut genährte Illusion. Sie scheitert aber – hier lohnt ein Blick in Niklas Luhmanns „Das Erziehungssystem der Gesellschaft“ – immer wieder daran, dass niemand von oben oder außen kontrollieren oder auch nur wissen kann, was ich als Lehrer im Unterricht tatsächlich mache. Ich würde tatsächlich gerne bis zur Pensionsgrenze weiter in der Schule arbeiten, ohne, wie schon nach Pisa, dauernd von den Legitimations- und Evaluationsbedürfnissen der Hierarchien über mir belästigt zu werden. Allen „Experten“ schließlich, die das nicht zur Kenntnis nehmen wollen, empfehle ich eine Umschulung zum Wind- oder Regenmacher.
BERNHARD BECKER