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: HELMUT HÖGE über die Unsterblichkeit

Mongolische Weisheit: Drei Pferdeleben sind genug

Michael Sontheimer besuchte gerade seinen Vater auf der Intensivstation. Der war nach zwei Operationen noch etwas benommen – und sagte vorwurfsvoll: „Warum hast du den Nachruf auf mich im Spiegel wieder aus dem Blatt genommen?!“ Ich rief nun meinen Vater in der Klinik an, er lag nach zwei Operationen – ebenfalls noch leicht durcheinander – auf der Intensivstation und sagte: „Ich bin jetzt das älteste SPD-Mitglied, die Genossen wollen alle kommen, um mir zu gratulieren – und Reden halten, aber du weißt ja, das mag ich nicht.“ Nachdem er aufgelegt hatte, trug Frauke, seine Frau, das Telefon wieder zurück ins Schwesternzimmer, unterwegs erklärte sie mir, leicht verdattert: „Das mit der SPD stimmt alles gar nicht!“ – Womit wir bei der Unsterblichkeit wären, die den alten Männern anscheinend wichtiger ist als das Leben.

Auch die zwei ältesten taz-Autoren im Rudi-Dutschke-Haus, Christian Semler und ich, unterhalten sich zwischen zwei aktuellen Kommentaren gerne über dieses leidige Thema. Kürzlich ging es jedoch zur Abwechslung mal um ein möglichst langes Leben: Semler meinte, dass er bereits jetzt schon viel älter als seine Eltern geworden sei und sogar vorhabe, noch mindestens bis 80 so weiterzumachen (schreiben), ich hätte aber ja Glück mit meinem 90-jährigen Vater – da könnte ich leicht (sozusagen genetisch vorprogrammiert) die 100 schaffen.

Ich wollte ihn schon fragen, ob das ein Fluch oder Segen sei, da schaltete sich unser Kollege Dondog Batjargal in das Gespräch ein: „Bei den Mongolen ist das anders – die Nomaden bereiten sich bereits mit 55 auf das Sterben vor. Drei Pferdeleben, also 60 Jahre, sind genug, sagen sie. Wenn sie dann so alt geworden sind, fangen sie sogar an zu stöhnen: Dieses Leben, das dauert und dauert … wann ist es bloß zu Ende?“

Da ich im April kurz durch die dortige Steppe gedüst war, vermutete ich sofort, diese Einstellung resultiere aus der ruralen Reizarmut: Wenn man jeden Tag in der Steppe hockt und auf das Vieh aufpasst, passiert nicht viel – so dass es einem dann irgendwann auch reicht! Semler fielen dazu die heißen Sommer der Jugendzeit ein, die sich ebenfalls endlos und voller Langeweile dahinzogen.

Das wiederum brachte uns auf Marx’ Kritik an Max Stirner und dessen Bemerkungen über die Mongolen, die er dem Jugendalter der Menschheit zurechnete (danach kam für ihn das mitteleuropäische Erwachsenenleben). Wiewohl Semler dabei an sich der Marx’schen Kritik folgt, gab er in diesem Fall Stirner Recht, insofern er meinte, dass die Zeit in der Jugend wirklich endlos gedehnt sei, während die Tage und Jahre mit zunehmendem Alter immer schneller vergehen würden – bis hin zum letzten kläglichen Ausruf „Mehr nicht?!“ Das ist in der Tat ziemlich unmongolisch.

Andererseits muss man uns und unseren anästhesierten Vätern zugute halten, dass hier wirklich viel mehr los ist als in der Steppe: Ich habe jetzt schon Termine im Spätherbst 2005 und einige Redakteure haben mir versichert, dass sie diesen oder jenen Artikel von mir nicht vor dem Sommerloch 2006 ins Blatt nehmen werden, ein so genanntes Buchprojekt soll sogar erst 2008 realisiert werden. Das Finanzamt habe ich nicht zuletzt deswegen neulich bereits auf 2010 vertröstet. Sie haben auf mein Angebot noch nicht reagiert, aus gewöhnlich gut unterrichteten, ewig klammen Kreisen weiß ich jedoch, dass die Kreuzberger Finanzbeamten in langen Zeiträumen zu denken gewohnt sind.

Im Gegensatz zu den eher unruhigen Westberliner Linken und den Ostberliner Bürgerrechtlern: Auf der Beerdigung des SDSlers Rüdiger Stuckart neulich machte Gisela Richter genau dieselbe Bemerkung wie Wolfgang Templin nach der Beerdigung von Wolfgang Ullmann: „Ich komm bald gar nicht mehr runter vom Friedhof.“ Ich kenne bereits einen Alt-SDSler, der jetzt mit einer blutjungen Friedhofsgärtnerin zusammenlebt. Aber das ist doch keine Lösung! Er behauptet jedoch, seitdem fühle er sich wie neugeboren. Wie auf einer Extensivstation geradezu.