: Die gewaltige Schönheit der Explosionen
Was wir gerade noch ertragen: Der neue Fotoprachtband „100 Sonnen“ zeigt Aufnahmen von oberirdischen Atomtests aus den Jahren 1945 bis 1962. Die Hochglanzbilder dokumentieren, wie ein Höchstmaß menschlicher Brutalität mit einem Höchstmaß an schönem Schein zusammentreffen kann
von DIRK KNIPPHALS
„Denn das Schöne ist nichts / als des Schrecklichen Anfang, den wir noch grade ertragen, / und wir bewundern es so, weil es gelassen verschmäht, / uns zu zerstören.“ – Eine dieser längst zu Prunkzitaten runtergerockten Rilke-Sentenzen. Aber nun, bitte, diese Zeilen aus der „Ersten Duineser Elegie“ nachschwingen lassen und den Fotoprachtband „100 Sonnen“ zur Hand nehmen! Er bietet die eindrückliche Erfahrung, wie stark Schönheit und Moral auseinander zu fallen vermögen.
Man sieht erleuchtete Energiebälle, mitten in der Nacht von einem inneren Feuer verzehrt, während sich um sie herum Wolkengebirge in der Dunkelheit verlieren. Man sieht gewaltige Rauchpilze in den Himmel wachsen; auf den Farbbildern erglühen sie in Rot und Gelb. Man sieht, wie manche dieser Pilze von Dunstkreisen umgeben sind, die der eigentlichen Explosion andächtig Platz zu machen scheinen. Man sieht Wände aus berstendem Dampf, so massiv, dass man gerne glauben mag, dass sie alles, wirklich alles in ihrer Umgebung aus dem Weg zu räumen vermögen.
Manche der Explosionen kommen auch schalkhaft daher. Und auf einigen Bildern, von schnellen Kameras Millisekunden nach der Zündung aufgenommen, entwickeln die Atompilze ganz eigenartige Strukturen. Auf einem Foto sieht das aus wie ein überdimensionierter Bovist kurz vor dem Platzen.
Keines dieser menschengemachten Naturphänomene hätte man, leibhaftig aus der Nähe betrachtet, überlebt. Wäre man nur nah genug gewesen, wäre man – „des Schrecklichen Anfang“ – verdampft, bevor das Gehirn noch Zeit gehabt hätte, die Lichtsignale zu verarbeiten. Der Band „100 Sonnen“ zeigt 100 Aufnahmen von oberirdischen amerikanischen Atomexplosionen aus der Zeit von Juli 1945 bis November 1962; und der dazugehörige Text, verfasst von dem Fotografen Michael Light (!), will einem ein schlechtes Gewissen einreden. Tatsächlich haben die hier und da abgebildeten Menschen etwas Gespensterhaftes. In der Regel sind es Soldaten, die in den Fünfzigerjahren zur Beobachtung abkommandiert wurden; lebende Leichen.
Aber das ist nicht die vorherrschende Einstellung, die man bei diesen Fotos entwickelt. Vielmehr setzt sich schnell eine ästhetische Betrachtungsweise durch, und sie ist auch viel nachhaltiger. Wer will, kann hier die Idee des Erhabenen eintragen. Wer will, kann sich auch immer noch darüber freuen, dass uns der reale Anblick dieser Explosionen im Zuge des Ost-West-Konflikts erspart geblieben ist („und wir bewundern es so, weil es gelassen verschmäht, uns zu zerstören“). Was gerade noch zu ertragen man sich allerdings wirklich anstrengen muss, ist, wie hier das Höchstmaß menschlicher Brutalität mit einem Höchstmaß an schönem Schein zusammentrifft.
Eine jede Bombe ist schrecklich. Und was sie produzieren, ist manchmal wunderschön.
„100 Sonnen“. Knesebeck Verlag, München 2003. 208 Seiten mit 100 Farb- und Schwarzweißabbildungen, 39,90 €