: Die Angst vor der Urbanität
Seit dem Amtsantritt von George W. Bush wurden die Bundesmittel für US-Metropolen wie New York systematisch gekürzt. Aus dieser Politik spricht eine Skepsis gegenüber der Großstadt, die in der amerikanischen Geschichte tief verwurzelt ist
VON SEBASTIAN MOLL
Im März 1805 wurde Thomas Jefferson, der dritte Präsident der Vereinigten Staaten, zum zweiten Mal ins Amt gewählt. In seiner Antrittsrede verteidigte der Plantagenbesitzer aus Virginia und Mitautor der Unabhängigkeitserklärung, ein Humanist und Sklavenhalter, vehement die Errungenschaften seiner ersten Amtszeit gegen seine Kritiker.
Thomas Jefferson verteidigte seine Steuerpolitik, die den Bauern und den Handwerker gegenüber dem Händler und dem Unternehmer bevorzugte und somit die Autarkie Amerikas sichere. Er verteidigte seinen umstrittenen Kauf der Territorien jenseits des Mississippi, den Louisiana Purchase, der den Fortbestand der Agrargesellschaft auf unbestimmte Zeit festigte. Und er lobte seine Indianer-Politik, die darauf zielte, aus den Ureinwohnern gute Bauern und somit gute Amerikaner zu machen.
Thomas Jefferson war der festen Überzeugung, dass nur die landwirtschaftliche Produktion und das Leben in kleinen ländlichen Gemeinschaften die junge Demokratie in Amerika sichern würde. In seiner Zeit als Gesandter in Paris hatte er zwar die französische Hauptstadt lieben gelernt, doch sie hatte in ihm auch die Überzeugung geweckt, dass das „Leben in der Stadt eine Pestilenz für die Moral, die Gesundheit und die Freiheit des Menschen ist“. Deshalb steuerte Jefferson gezielt einen Wirtschaftskurs, der die Menschen dazu zwang, sich in Städten zusammenzukauern. In der Umkehrung des Credos der mittelalterlichen Stände fand Jefferson, dass Landleben, nicht Stadtluft frei mache. Die Skepsis gegenüber den großen Städten hält sich in Amerika hartnäckig. Das Boston der Pilgerväter im 17. Jahrhundert schon war von deren Anführern John Winthrop und Cotton Mather als ein Anti-London konzipiert. Und im Herbst 2003 wurden Tonaufnahmen aus der Watergate-Untersuchung freigegeben, auf denen der republikanische Präsident Richard Nixon ausruft: „Möge Gott New York verdammen. Es ist vollgestopft mit Juden und Schwarzen, Katholiken und Puerto Ricanern. Es gibt ein Gesetz des Dschungels, das besagt, dass manche Dinge einfach nicht überleben sollten. Vielleicht sollte New York nicht überleben. Vielleicht sollte es einen Zyklus der Zerstörung durchlaufen.“
George W. Bush würde sich nie trauen, sich derart flagrant gegen New York zu stellen. Im Gegenteil, sein gesamter Wahlkampf baut auf seiner heroischen Solidarität mit „dieser großartigen Stadt“ auf, wie er New York erst jüngst auf dem republikanischen Parteitag im Madison Square Garden nannte. Nicht zuletzt deshalb hatte sein Kampagnenberater Karl Rove vor anderthalb Jahren New York überhaupt als Ort für den Nominierungskonvent der Republikaner auserkoren. Die Politik von George Bush spricht hingegen eine andere Sprache als seine Rhetorik. Denn seit seinem Amtsantritt versucht Bush systematisch, New York finanziell auszutrocknen.
Jedes Jahr im Februar, wenn der Bundeshaushalt publik wird, sitzt man im Rathaus von New York zusammen und rechnet sich die Konsequenzen aus. Das Resultat ist in der Regel ein dickes Buch, in dem jedes Thema, das der Stadt wichtig ist, den Plänen aus Washington für die Behandlung dieses Themas gegenübergestellt wird. Das Fazit von Bürgermeister Michael Bloomberg, einem Parteigenossen von George W. Bush, ist in beinahe allen Belangen Wut und Bitterkeit: „Position: Oppose“ – unsere Position: Widerstand – ist die Bemerkung, die in nahezu allen Fällen unter der Einzelanalyse steht.
Zum Beispiel Bildung. Bushs „No Child Left Behind“-Programm sollte durch rigorose Bildungsstandards das Bildungsniveau in den öffentlichen Schulen anheben und gleichzeitig die Mittel dafür zur Verfügung stellen, dass diese Standards auch erreicht werden. Was in New York angekommen ist, sind jedoch alleine die harten Tests, nicht aber das Geld. Der Kongress hatte acht Milliarden für dieses Programm bewilligt, doch die Regierung konnte oder wollte bislang nicht zahlen. 900 New Yorker Schulen hätten Anspruch auf dringend benötigte 1,2 Milliarden gehabt. Die Kombination aus härteren Standards und Unterfinanzierung hat nun zur Folge, dass „unterprivilegierte Kinder schon in frühem Jugendalter das Stigma des Versagens ertragen müssen. In New York gibt es dadurch eine höhere Rate an Schulabbrechern, mehr Gewalt, größere Klassen“, schreibt Jack Newfield in der Wochenzeitung The Nation.
Die Liste der Kürzungen von Bundesmitteln, die New York direkt und schmerzlich treffen, ist schier endlos: Das Budget für ein Programm zur Arbeitsbeschaffung für Arbeiter wurde um 110 Millionen gekürzt; ein Programm zur Linderung der grassierenden Armut in den Großstädten um 240 Millionen. Gelder aus dem Justizministerium für die Drogenbekämpfung wurden ersatzlos gestrichen; ebenso ein Budget für sozialen Wohnungsbau; die neue Umweltgesetzgebung Bushs, klagt Bloomberg, wird die Luftqualität in New York merklich verschlechtern; und durch die Mittelkürzung für die Behandlung von Aids-Patienten werden vermutlich tausende von New Yorkern sterben.
Am krassesten wird der Antiurbanismus der Regierung vielleicht sichtbar, wenn man die Verteilung der neuen Antiterrorbudgets betrachtet. Durch die starke Lobby der ländlichen Regionen fließen die Gelder in Gegenden, die man nur schwerlich als Terrorziele von Islamisten betrachten kann. Aus dem State Homeland Security Grant Program gehen 38,31 Dollar pro Kopf nach Wyoming, 5,47 Dollar nach New York. Auf der Liste der vom Terrorismus bedrohten Städte stehen mittlerweile 80 Gemeinden, noch gerade einmal sieben Prozent New York bekommt aus den Mitteln der „Urban Areas Security Initiative“. Louisville, Kentucky, die Heimatstadt des Vorsitzenden des Komitees, das diese Gelder verteilt, bekommt neun Millionen Dollar.
Obwohl die großen Städte mit den größten Problemen zu kämpfen haben, fließen die Gelder im Amerika von George Bush von der Stadt aufs Land. New York zahlt 66 Milliarden Dollar Steuern an den Bund, bekommt aber lediglich 54,5 Milliarden an Unterstützung aus Washington – mehr als 11 Milliarden Dollar, die in New York erwirtschaftet wurden, werden über das ganze Land verteilt.
Den Kenner der US-Geistesgeschichte überrascht dieser Antiurbanismus der Republikaner indes nicht: „Das ist ein Leitmotiv in Amerika, von Anfang an“, sagt Richard Sennett, emeritierter Urbanismus-Theoretiker an der New York University. Das gesamte Projekt Amerikas – die Utopie einer neuartigen menschlichen Gemeinschaft als Bruch mit dem verderbten Europa – trägt von Beginn an antiurbane Züge.
„Die Puritaner“, führt Sennett aus, „wollten sich durch ihren Aufbruch aus England der Kontrolle einer zentralen religiösen Autorität entziehen.“ Wie die Evangelikalen unserer Tage, die christliche Rechte, die von der amerikanischen Regierung Besitz ergriffen hat, suchten die Puritaner eine vom Kirchendogma unverstellte Unmittelbarkeit zu Gott. Die puritanischen Gemeinden in Neu-England waren als neues Eden gedacht, als unverwässerte Verwirklichung von Gottes Reich auf Erden.
Als zwischen 1690 und 1740 die Bevölkerung Bostons von 7.000 auf 17.000 angewachsen war, ließ sich die engmaschige soziale Kontrolle durch den Klerus jedoch nicht mehr aufrechterhalten. Cotton Mather, einer der Gründer der Kolonie, beklagte das entstehende Bettlertum, die wachsende Trunksucht, die schwindende Unterwürfigkeit der Frauen sowie schamlose Tanzveranstaltungen. Im so genannten Great Awakening der 1730er-Jahre bäumten sich die Gläubigen gegen diesen städtischen Verfall ein letztes Mal auf – ohne nachhaltigen Erfolg.
Dennoch kehrt der Antiurbanismus als amerikanische Ideologie immer wieder – ob unter Thomas Jefferson, der die kleine, überschaubare ländliche Gemeinde als Wurzel der amerikanischen Demokratie sieht oder unter Andrew Jackson, der sich während seiner Präsidentschaft von 1829–1837 wie kein anderer für den Westen und gegen die Oligarchen an der urbanisierten Ostküste stark machte. Jackson, ein General der amerikanisch-englischen Kriege, stammte aus einer irischen Flüchtlingsfamilie und war in der Wildnis der Appalachen aufgewachsen. Er galt als Prototyp des „Frontiersman“, des Pioniers, ein Kind der Natur. Als hätte sich Jefferson ihn ausgedacht, wurde er zum Sinnbild des amerikanischen Demokraten, den das weite Land hervorbringt wie den Mais und den Weizen.
1893 erklärte der Historiker Frederick Jackson Turner die Besiedlung des Kontinents für abgeschlossen – und malte dabei ein pessimistisches Bild vom Verfall Amerikas: Das weite Land als Garantie für Freiheit und Demokratie war knapp geworden. Doch so utopisch die Reinheit der ländlichen Gemeinschaft war, so unbegründet waren auch die apokalyptischen Verfallsängste, die auf die amerikanische Urbanisierung projiziert wurden. Dennoch hielten sie sich hartnäckig: in den 1950er-Jahren etwa, als die Migration der Schwarzen aus dem Süden in die Städte massive Ängste bei der konservativen Rechten hervorrief und zu einer landesweiten Welle des Rassismus führte.
„Die christliche Rechte war in Amerika schon immer da“, sagt Richard Sennett, „und sie war immer angetrieben von der Angst vor dem Anderen“: Ob das „Andere“ nun die trunksüchtigen Iren waren, die die puritanische Moral des Boston von 1730 verdarben, oder die Schwarzen, Puerto Ricaner, Katholiken und Juden, die bei Richard Nixon Gelüste weckten, eine Atombombe auf New York zu werfen. Die Aggression gegen die Stadt, so Sennett, entstand stets aus dem Gefühl, dass die Stadt etwas Fremdes ist, etwas Bedrohliches, außer Kontrolle Geratenes.
Heute, in der Zeit der Globalisierung, so der Urbanist, sei es neben dem fundamental-christlich verbrämten Antipluralismus nicht zuletzt die Tatsache, dass die großen Handelszentren der Welt wie New York, Chicago, London, Tokio und Frankfurt weitestgehend exterritoriale Gebilde sind: „Der Großteil des Handels, den Städte wie New York und London betreiben, ist global und findet zwischen den großen Handelszentren statt und nicht mit dem Rest des Landes. Nationale Regierungen haben darauf kaum mehr Einfluss.“
Das wurmt George Bush gewaltig – auch wenn er sich anders als Nixon nicht traut, das laut auszusprechen. Aber er lässt es New York spüren.
Liberalen Globalisten wie Sennett, die Städte wie New York gerade wegen ihrer Vielfalt und Komplexität lieben, bleibt da nur zu hoffen, dass die Bush-Ära ein ähnlich vergebliches Aufbäumen der Konservativen ist wie das puritanische Great Awakening vor 270 Jahren oder wie der McCarthyismus in den 50er-Jahren. „Die McCarthy-Jahre sind auch vorbeigegangen“, spricht sich Richard Sennett Mut zu.
Allerdings nicht, ohne beträchtlichen Schaden anzurichten, national und international. Und was New York anbetrifft, hat Bush bereits mehr als genug Schaden angerichtet.