Das Buch ist alles. Das Buch ist nichts

Seit der Pisa-Studie sind deutsche Eltern und Lehrer verunsichert: Wie Lesen lernen?, fragt sich der 21. Platz aus der Weltliga der Lesefähigkeit. Mit zwei großen L und einem V, antworten die Experten und Doris Schröder-Köpf: Liebe, Lesen, VorleserInnen

von CHRISTIAN FÜLLER

Die Weltlesestudie Pisa hat deutsche Eltern und Erzieher mächtig verunsichert. „Sollen wir denn schon mit dem Vierjährigen Vokabeln pauken?“, raunt man sich vor der Kita zu. Gesichter werden bleich, wenn ein Kind aus dem Kindergarten sich als hochbegabt entpuppt – und sich Lesen wie Rechnen selbst beibringt. „Vielleicht nutzen ja schon Vorlesetage in der Kita“, spornt man sich zu gemeinsamem Engagement an. Und richtet sich kritisch gegen die Erzieher: „Muss denn immer noch der ‚Struwelpeter‘ hier herumliegen?“ Die Dichter-und-Denker-Nation ist in der Sinnkrise. Wie lernt man eigentlich Goethes Profession?

Gut, dass es die Doris gibt. Doris Schröder-Köpf, Frau des Bundeskanzlers und stets im besonderen Einsatz für ihren Herrn Gemahl, startete vergangene Woche während der Buchmesse eine Aktion namens „Deutschland liest vor“.

Sie wolle, so sagte die Journalistin, auch den Kindern und Jugendlichen, deren Eltern keine Bücher kaufen, eine Chance geben. Die Chance nämlich, „sich für das Lesen zu begeistern“. Schröder-Köpf war damit einerseits ziemlich schamlos. Behauptete sie doch, zusammen mit der „Körber-Stiftung“ eine tolle Leseidee aus den USA importiert und auf den deutschen Markt gebracht zu haben. Endlich.

Dabei ist die Wahrheit eine andere. Der Markt wird enger. Denn die „Stiftung Lesen“ ist schon seit langen 26 Jahren dabei, so genannte Vorlesepaten auszubilden. Insgesamt 3.000 solcher professioneller Vorleser ziehen im Namen der Lesestifter aus Mainz durch deutsche Kitas, um Kinder ans Buch heranzuführen.

Andererseits hatte Kanzlers Gattin vollkommen Recht. Lesen lernen geht nicht ohne Lesen. Und Sprache lernen genauso wenig. „Zur Vorbereitung des Lesenlernens gilt es, das Interesse aller Kinder an Geschichten zu bestärken, Vertrautheit mit Büchern zu schaffen und Interesse am Lesen zu wecken.“ So steht es im Berlin-Brandenburgischen Bildungsbericht, der ersten Zusammenschau von Pisa-Desaster, überkommener Schulstruktur und konkreten sozialen Bedingungen einer deutschen Lernregion.

Für die Autoren des Berichts, unter ihnen der Leiter des deutschen Teils der Pisa-Studie, Jürgen Baumert, ist glasklar, wie man dieses Ziel erreichen kann: „Der einzige Weg dahin ist das Geschichten-Vorlesen der Erwachsenen, das heute in vielen Einrichtungen zu kurz kommt (Videokassetten leisten nicht denselben Dienst).“

Was Baumert so genau zu wissen glaubt, ist keine Selbstverständlichkeit. Lesen geht nur mit Buch. Das klingt wie eine Binse – und doch macht es lange nicht jede Kita. Im Gegenteil. Als die Stiftung Lesen 1994 ein Pilotprojekt in Brennpunktkitas der Stadt Frankfurt am Main startete, waren die Leseexperten erschüttert. Weder in den Kitas noch zu Hause bei den Kindern aus sozial benachteiligten und Migrantenfamilien wurde gelesen. „Vorlesen ist“, so fasst Sigrid Strecker, die Leiterin des Projektteams bei der Stiftung Lesen zusammen, „ein Stück Sozial- und Bildungsarbeit.“

Das bedeutet, dass das Vorlesen in Kitas nichts vom Dünkel des Bildungsbürgertums haben darf. Nicht bildungsbeflissene Eleven erwarten literarische Hochgenüsse. „Der Funke muss überspringen“, sagt Strecker, die selbst Vorleser ausbildet.

Eltern, Erzieher oder Vorlesepaten sollen nicht Elmar Gunsch mimen und die Kinder einschläfern. Beim Vorlesen geht das Sprachelernen erst richtig los. Es ist der erste Schritt in eine neue Welt, in der die Kinder sich fragend die Personen, die Story und die Botschaft einer Geschichte erschließen. Wie sie die Figuren aus den Geschichten lösen und eigene Abenteuer erleben lassen. „Das Vorlesen ist ein Mittel, um aktive Kommunikation mit den Kindern herzustellen“, so Strecker. Es geht also nicht ohne die Personen. Oder: Das Buch ist alles. Und das Buch ist nichts – wenn der Vorleser den Faden nicht aufnimmt.

Ähnlich wie den Kindern geht es der Kita. Ist der Lesetermin erst ausgemacht, geht die Chose erst los. Denn dann müssen sich die Erzieher öffnen, müssen helfen, die Paten mit den Kindern bekannt zu machen – und bereit sein, ihren Job ein wenig zu verändern. „ErzieherInnen sind nicht immer erfreut, wenn ihnen plötzlich ein Fremder ins pädagogische Konzept hineinfunkt“, weiß Projektleiterin Strecker von der Stiftung Lesen.

Aber ohne den Impuls von außen geht es oft nicht. Die Bildungsexperten um Jürgen Baumert haben festgestellt, dass Sprachförderung das zentrale Instrument im Kindergarten erst werden muss. Noch ist es das nicht. Förderung von Sprache und Zugang zum Lesen muss das Kerngeschäft der Kita sein – und erst daneben das Spielen, die Körper- und die emotive Erfahrung. Da stimmen alle Experten überein – sei es der Erfinder des Berliner Sprachtests Bärenstark, Andreas Pochert, oder der renomierteste deutsche Frühpädagoge, Wassilios Fthenakis.

Lesen kann seinen Platz in der Kita nur schwer zurückerobern, heißt es in Berlins Bildungsbericht. „Wenn das Vorlesen gerade nicht in didaktischer Mühsal endet („Was hat der Prinz gesehen, hm? Ich warte!“), sondern wenn das Lesen für sich etwas gilt.“

So emphatisch die klugen Bildungsfroscher da sein mögen, die Doris kann das besser: „Kinder brauchen die zwei großen Ls: viel Liebe und viel Lesen.“