: Machtpolitik, modern
Joschka Fischer vor der UNO – die deutsche Außenpolitik vertritt immer offensiver ihre Interessen. Die Forderung nach einem ständigen Sitz im Sicherheitsrat ist schädlich
Vor genau zehn Jahren erschien ein Buch mit dem Titel „Risiko Deutschland“. Für seinen Autor, Joschka Fischer, lag damals der Posten des Außenministers noch in weiter Ferne. Das Buch wurde aber allseits als Bewerbungsschreiben für diesen Posten gelesen und – wie Fischer später einräumte – auch geschrieben. Wenn Fischer in dieser Woche zur Eröffnung der diesjährigen UN-Generalversammlung in New York spricht, wird er andere Töne von sich geben als damals. Das Thema wird aber das alte sein.
Für Fischer resultierte das „Risiko Deutschland“ 1994 vor allem aus einer sich langsam anbahnenden „erneuten Vermachtung“ der deutschen Außenpolitik. „Es fängt heute mit der Parole ‚Mehr Verantwortung übernehmen!‘ an“, so Fischer damals. Danach würden „die ersten Kriegseinsätze stattfinden“, Deutschland einen ständigen Sitz im Sicherheitsrat erhalten und irgendwann auch eine Debatte „um die ‚vollständige Souveränität‘“ beginnen, die „in der heutigen Welt nun einmal die nukleare Souveränität“ sei. So werde eines zum anderen kommen und die wirtschaftliche Großmacht Deutschland sich auch auf den Weg zur politischen Großmacht begeben.
Dies könnte, führte Fischer aus, die Hegemonie eines Machtstaates Deutschland unter modernen Bedingungen begründen. Bei den europäischen Nachbarn werde das alles andere als Entzückensschreie auslösen, sondern Furcht, Misstrauen und mehr oder weniger verdeckte Eindämmungsbemühungen. So weit Fischer 1994.
Zehn Jahre später sieht es so aus, als ob Deutschland auf diesem Weg beträchtlich vorangekommen ist. Gewiss, die „nukleare Souveränität“ ist – noch – kein Thema. Ansonsten aber hat gerade die rot-grüne Bundesregierung etliche Punkte von der Agenda der „deutschnationalen Revisionsversuche“ abgearbeitet. Das gegenwärtige außenpolitische Großprojekt, Deutschlands Drang nach einem permanenten Sitz im UN-Sicherheitsrat, zählt zweifellos dazu. Und wie Fischer korrekt vorausgesagt hat, sind aus den Hauptstädten der EU-Partner nicht unbedingt Entzückensschreie zu vernehmen. Ganz im Gegenteil. Italien, Polen und Spanien machen keinen Hehl aus ihrem Misstrauen gegenüber den Deutschen. Und wie Silvio Berlusconis geschickt an die Öffentlichkeit lancierter Brief an George W. Bush zur Verhinderung eines deutschen Sitzes zeigt, werden die Eindämmungsbemühungen deutscher Großmachtambitionen mittlerweile offen zu Markte getragen.
Aber ist es wirklich gerechtfertigt, der ersten echten linken deutschen Regierung seit den frühen Tagen der Weimarer Republik einen Rückfall in die finstersten Tage deutscher Machtpolitik vorzuwerfen? Auch hier verdient Fischer genau gelesen (und gewürdigt) zu werden. Deutschland verfolgt heute Machtpolitik „unter modernen Bedingungen“. Das äußert sich in ganz unterschiedlichen Formen. Natürlich fallen wir nicht mehr über die Polen her. Aber bei den Verhandlungen über Stimmrechte in der EU hat der deutsche Bundeskanzler seinen polnischen Kollegen in unmissverständlichem Ton wissen lassen, dass Polen in einer tieferen Klasse spielt. Eine ähnliche Botschaft entnahmen die Polen dem jüngsten Dreiergipfel zwischen Schröder, Putin und Chirac in Sotschi. Moderne Machtpolitik äußert sich nicht mehr darin, dass deutsche Panzer rollen. Sie zeigt sich unter anderem darin, dass die deutsche Diplomatie immer öfter nach Statusvorteilen gegenüber vormals „gleichberechtigten“ Partnern (wie etwa Italien) strebt und mit immer härteren Bandagen für diese Ziele kämpft. Das hat die Bundesregierung auch in Brüssel gezeigt, als sie rücksichtslos ihre Interessen bezüglich des EU-Stabilitätspaktes durchgesetzt hat. In diesem Sinn ist Schröders Streben nach einem ständigen Sitz durchaus das moderne Äquivalent von Kaiser Wilhelms Streben nach einem „Platz an der Sonne“.
Kein Zweifel, das Ganze wird ausgesprochen elegant verpackt, und für diese „moderne“ Verpackung könnte man sich keinen Besseren vorstellen als den derzeitigen deutschen Botschafter bei den Vereinten Nationen, Gunter Pleuger. Für Pleuger ist der ständige Sitz sozusagen ein Lebensprojekt. Seine Diplomatenkarriere begann in New York und hier wird sie (nach diversen Heimatverwendungen in Bonn beziehungsweise Berlin) wohl auch enden. Fast immer ging es dabei um die Vereinten Nationen. Und spätestens seit Anfang der 1990er-Jahre war Pleuger im Amt dafür bekannt, dass das Projekt Sicherheitsratssitz „sein Baby“ war. Mit Kohl und Genscher konnte er es allerdings noch nicht schaukeln. Erst Schröder öffnete seine Arme.
Kein Zweifel auch, dass Schröders Diplomaten Lichtjahre von der Plumpheit Wilhelminischer Großmachtdiplomatie entfernt sind. Ihre geschliffene Rhetorik kann jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass es bislang nicht gelungen ist, gute Gründe für das deutsche Ansinnen ins Feld zu führen. Dies zeigt eine Reihe von Argumenten, die das Auswärtige Amt regelmäßig mit der Erklärung seiner „Bereitschaft“ präsentiert, „dauerhaft mehr Verantwortung zu übernehmen“ (unter anderem nachzulesen auf der Homepage des Auswärtigen Amtes).
Dabei ist die Ausgangsbeschreibung sicherlich korrekt: Die Zusammensetzung des Sicherheitsrats spiegelt in der Tat „die weltpolitische Realität“ der Gegenwart nicht mehr angemessen wider. Aus der Forderung nach einer Erhöhung seiner „Repräsentativität“ folgt allerdings gerade nicht, dass ausgerechnet der alte „Feindstaat“ Deutschland aufrücken sollte. Wenn man das Kriterium „Repräsentativität“ nach den Anteilen der einzelnen Regionen an der Weltbevölkerung bemisst, spricht nichts für eine weitere Zunahme, sondern alles für einen drastischen Abbau der europäischen Stimmrechte im UN-Sicherheitsrat.
Die Bevölkerungszahlen aller derzeitigen EU-Mitglieder plus Russlands summieren sich noch nicht einmal zu einem Zehntel der Weltbevölkerung. Gleichzeitig besetzen die Europäer aber schon heute drei von fünf ständigen Sitzen. Nach dem bevorzugten Modell der Deutschen, dem so genannten Razali-Vorschlag, würde die Zahl der ständigen Sitze verdoppelt. Neben Deutschland und Japan käme jeweils ein Sitz für Afrika, Asien und Lateinamerika hinzu. Dass in diesem Fall weniger als zehn Prozent der Weltbevölkerung weiterhin vierzig Prozent der ständigen Sitze belegen würden, mag die machtpolitischen Verhältnisse spiegeln, als Erhöhung der Repräsentativität kann dies jedoch kaum gelten.
Es ließen sich weitere Argumente anführen, die das deutsche Ansinnen als in hohem Maße ungerechtfertigt erscheinen lassen. Entscheidend ist letzten Endes aber, dass das Prestige-getriebene Streben nach Statusvorteilen höchst unklug ist, weil es wichtige Partner gegen uns aufbringt und dem Anliegen einer gemeinsamen europäischen Politik erheblichen Schaden zufügt. Joschka Fischer weiß dies besser als jeder andere. Warum nur macht er sich zum obersten Gehilfen neuer deutscher Prestigepolitik? GUNTHER HELLMANN