: Kritiker der ethischen Inkompetenz
Heinz Bude, 1954 in Wuppertal geboren, studierte Soziologie, Philosophie und Psychologie an der Universität Tübingen und an der FU Berlin; 1978 Diplom in Soziologie. 1986 promovierte er mit einer Dissertation zur Wirkungsgeschichte der Flakhelfer-Generation. 1994 habilitierte sich Bude mit einer Schrift zur Herkunftsgeschichte der 68er-Generation. 1996 war er Visiting Scholar der Cornell University. Seit 2000 ist Bude Professor für Makrosoziologie an der Universität Kassel. Seit 2004 ist er im Vorstand der Deutschen Gesellschaft für Soziologie. Zu seinen Publikationen gehören „Die Ausgeschlossenen. Das Ende vom Traum einer gerechten Gesellschaft“ (2008) und „Kapitalismus ohne Leitbild“ (2004). Termin: Heinz Bude ist auf dem tazkongress, am Samstag, 18. April 2009 um 12 Uhr im Theatersaal des HKW und wird einen Vortrag halten. Thema: „Was ist heute Entfremdung? Was der 60. Geburtstag der BRD mit der angeblichen Bildungskrise zu tun hat mit Schönheitswahn und Leistungsfanatismus.“ Mehr zum Kongressprogramm: 30jahre.taz.de/programm
„Hilft uns Richard Sennetts Werk, wenn sich heute die Frage nach Lebensformen, Treue und Freundschaft stellt? Ich glaube, ja!“ Heinz Budes Laudatio zur Verleihung der Heinrich-Tessenow-Medaille
VON HEINZ BUDE
Das letzte Mal, dass ich Richard Sennett erlebt habe, war im Frühherbst letzten Jahres. Genauer gesagt am 25. und 26. September 2008 in Boston. Sie erinnern sich: Am 15. September har Lehman Brothers Konkurs angemeldet, und in der Nacht vom 21. auf den 22. hatte sich Goldman Sachs unter der Ägide des famosen Lloyd Blankfein von der ersten Investmentbank der Welt in eine ganz normale Geschäftsbank mit Privatkunden und Schalterverkehr verwandelt. Das Wiener Institut für die Wissenschaften vom Menschen hatte zu einer Konferenz über Solidarität mit europäischen und amerikanischen Sozialwissenschaftlern eingeladen, und allen Teilnehmern war klar, dass innerhalb einer Woche eine bestimmte Periode des globalen Nachkriegskapitalismus zu Ende gegangen war.
Richard Sennett sprach von den sechs-oder achttausend Leuten, die man als Drahtzieher eines Systems von Finanzmarktspekulationen ausmachen konnte, das uns ein Desaster beschert hat, das der Großen Depression der Dreißigerjahre des letzten Jahrhunderts gleicht, die, so muss man wohl hinzufügen, am Ende den Zweiten Weltkrieg nach sich gezogen hat. Man müsse sich über die Funktionsweise dieses Systems Klarheit verschaffen, wo Banken Risiken gebündelt, in Risikoklassen aufgeteilt und weiterverkauft haben, um so ihre Bücher von Krediten zu reinigen, die sie selbst eingegangen sind; man müsse auch über kluge Kontrollen über das riesige globale Geschäft des Finanzhandels nachdenken, dessen Volumen Ende 2007 einen Wert von unvorstellbaren 600 Billionen Dollar erreicht hatte (zehn Jahre zuvor waren es „nur“ 75 Billionen Dollar gewesen).
Aber bevor man das alles mache, müsse man sich die Mentalität, die Haltung und die Lebensauffassung der Akteure dieser Krise vor Augen führen. Wie kann man darauf kommen, dass Spekulation wichtiger als Investition ist; wie macht man sich kalt für das Schicksal von Menschen, die durch die gezielte Zertrümmerung von profitablen Unternehmen freigesetzt werden, nur um bestimmte Renditeerwartungen zu erfüllen; was ist man für ein Mensch, wenn man sich dem leeren Kommando des „Mehr!“ unterstellt?
Der Grund für diese Lebensform ethischer Inkompetenz, so erklärte uns Richard Sennett im Herbst letzten Jahres, liege in der Unfähigkeit, allein zu sein. Wer sich dem „automatischen Subjekt“ des Geldes unterwirft, so habe ich Richard Sennett verstanden, kann nicht mit sich allein sein. Man braucht die beständige Aufmerksamkeit der Anderen, die einem die enorme Selbstwirksamkeit bestätigen, um sich als ein reales menschliches Wesen zu fühlen. Die Angst, dass die jeden Moment ausbleiben könnte, hält einen am Leben. Dass man sich der Zufuhr durch die Anderen nie sicher sein kann, kann einem am Morgen auf dem Laufband im Fitnessstudio oder am Abend beim Warten auf den Martini an der Bar plötzlich vor Augen stehen. Und die Reaktion ist panische Angst.
Dieses irre Zurückschrecken vor dem Alleinsein macht einen unfähig zur Empathie mit dem Schicksal Anderer. Die Berührung durch einen Anderen würde die Entleertheit des eigenen Selbst enthüllen. Der britische Psychoanalytiker D. W. Winnicott spricht in diesem Zusammenhang von der Erfahrung, dass nach einem befriedigenden Geschlechtsverkehr jeder der Partner allein ist. Wenn man es genießen kann, mit einem anderen Menschen zusammen allein zu sein, dann ist man auch in der Lage, sich um das Leben der Anderen zu kümmern. Die Paradoxie der ethischen Einstellung besteht darin, dass man die soziale Spiegelung lassen können muss, um eine soziale Verpflichtung empfinden zu können. So gesehen wären unsere Finanzmarktspezialisten aber nur gesteigerte Versionen von uns selbst: Nach der Diagnose von David Riesman teilen wir alle das Schicksal des „außengeleiteten Charakters“, der Halt an den Anderen sucht. Im Thrill der ungeheuren Spekulation kommt dieser von einem nervösen Radarsystem geleitete „Charakter“ zu sich selbst. Es gibt keine vorstellbare Substanz, keine erlebbaren Konsequenzen der Ökonomie, sondern nur das Spiel mit den Erwartungen der Anderen, denen man sich im Triumph über sie nur noch mehr ausgeliefert hat. Die ethische Subjektivität hingegen holt aus der Fähigkeit zum Alleinsein die Kraft, sich der Situation der Anderen auszusetzen und daraus eine, wie Emmanuel Levinas sagen würde, unendliche, weil im Prinzip unerfüllbare, Verantwortung abzuleiten.
Man muss kein Marxist sein, um in dem, was man „Finanzmarktkrise“ nennt, eine Signalkrise der Weltauffassung zu erkennen. Was Richard Sennett den Flexiblen Kapitalismus genannt hat, bezog sich nicht allein auf die Veränderung der Beschäftigungsverhältnisse und der Arbeitsformen, wo man Projekte definiert, Zielvereinbarungen trifft und Performance verlangt – Sie kennen das entsprechende Mantra der Beschäftigungsfähigkeit: Man soll lebenslang lernen, soll seine „kommunikative Kompetenz“ schulen, soll auf seine „emotionale Intelligenz“ vertrauen, darf aber nur befristete Anstellungen erwarten. Richard Sennett hat mit Absicht von der Kultur des Flexiblen Kapitalismus gesprochen, um deutlich zu machen, dass es auch immer um die Durchsetzung eines neuen Weltbegriffs der Vieldeutigkeit, Selbstbezüglichkeit und Formbarkeit ging. Formeln wie die „Multioptionsgesellschaft“, Bezeichnungen wie die des „radikalen Konstruktivismus“ oder Vorstellungen wie die von einer Plastizität des Verhaltensrepertoires über den gesamten Lebenslauf gehören zu dem, was man nach einem berühmten Titel von Peter Berger und Thomas Luckmann die „gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit“ nach den Prinzipien des Flexiblen Kapitalismus nennen könnte. Wer sich an nichts hängt, aber das Negierte präsent hält und alles Neue als Herausforderung begreift, soll demnach die Nase vorn haben. Verloren sind die Loyalen, Aufrichtigen und Eigensinnigen. Deshalb vertieft sich die Spaltung zwischen jenen, die einer alten Zeit trotz ihrer harten Ungerechtigkeiten nachtrauern, und denen, die die neue Zeit ohne Mitleid mit einer wachsenden Gruppe von Überflüssigen feiern.
Vielleicht kann man das Werk von Richard Sennett als Antwort auf eine „geistige Situation der Zeit“ nehmen, wo wir begreifen wollen, was uns in dieser Periode des Flexiblen Kapitalismus ergriffen hat, die mit einem Schlag vergangen zu sein scheint. Wir fragen uns, wozu wir uns durch „Plastikwörter“ wie Globalisierung, Digitalisierung und Individualisierung haben verleiten lassen. Natürlich hat sich dadurch, dass wir relativ mühelos überall hinreisen können, dass wir Sushi, Yoga und Buddhas ins Normalprogramm der Lebensführung aufgenommen haben, dass wir sofort über Bilder von jedem Erdbeben verfügen können, unsere Welt verändert. Natürlich hat uns das Internet ganz andere Kommunikationsmöglichkeiten eröffnet. Und natürlich wollen wir alle einzigartige und unaustauschbare Individuen sein und uns nicht mehr als Repräsentanten von Großgruppen ansprechen lassen. Aber die Tatsache, dass sich uns durch den globalen Massentourismus, den globalen Massenkonsum und die globalen Massenmedien viele neue Türen öffnen, kann doch nicht darüber hinwegtäuschen, dass wir immer nur durch eine einzige gehen können. Die Tatsache, dass wir uns über Facebook viele neue Freunde ansichtig machen können, wirft andererseits die Frage auf, was ein wirklicher Freund ist. Hilft uns Richard Sennett, wenn sich heute die Frage nach Lebensformen der Existenz, der Freundschaft und der Treue stellt?
Ich glaube, ja, und ich will das an drei Begriffen zeigen, die sich durch das Werk von Richard Sennett ziehen: dem Begriff des Charakters, dem Begriff des Respekts und dem des Handwerks.
Sein in Deutschland erfolgreichstes Buch ist das 1998 im Berlin Verlag erschienene Werk „Der Flexible Mensch. Die Kultur des neuen Kapitalismus“ („The Corrosion of Character“). Es handelt vom Zerfall der persönlichen Erfahrung in der Arbeitswelt des Flexiblen Kapitalismus. „Character“ ist nicht Charakter. Es geht vielmehr um eine Idee des Selbst, das in dem Maße für sich selbst seine Erfahrungen zusammenbringen kann, wie es eine Zugehörigkeit zu Anderen empfindet. Wem die Anderen nur die Hölle sind, macht sich selbst zur Hölle.
Dieses Motiv findet sich schon in dem 1972 erschienenen, zusammen mit Jonathan Cobb erarbeiteten, von Richard Sennett dann aber verfassten Buch „The Hidden Injuries of Class“ – auf Deutsch vielleicht: „Verletzte Menschen. Die verborgenen Wirkungen der Klasse in der kapitalistischen Konkurrenzgesellschaft“. Darin gibt es den wichtigen Gedanken, dass die andere Seite des demokratischen Gesetzes der Anerkennung durch Leistung die Beschämung aufgrund nicht wahrgenommener Leistungsbereitschaft oder nicht gewürdigter Leistungsfähigkeit darstellt. Klasse kommt durch Vorgesetzte ins Spiel, die die Maßstäbe vorgeben, nach denen die Leistung des Einzelnen beurteilt wird. Die wiederum berufen sich auf allgemeine Standards, um ihre Hände in Unschuld zu waschen, wenn sie jemanden mangels Leistungsfähigkeit degradieren oder mangels Leistungsbereitschaft aussortieren. Sicher, Leistung muss sich lohnen – aber wer bestimmt anhand welcher Maßstäbe, was eine gute, eine schlechte oder gar keine Leistung ist? Danach wird in der kapitalistischen Konkurrenzgesellschaft ein Urteil über die Identität einer Person gefällt, die sich danach bestätigt, zurückgesetzt oder missachtet fühlt. Pisa führt uns heute vor Augen, wie das geht. Das Beunruhigende dieser Frage wird vor allem in der Generationenfolge virulent: Was kann ich meinen Kindern bieten, worauf können sie im Blick auf ihren Vater oder ihre Mutter stolz sein, welchen Strang der Erzählung unserer Familie werden sie aufnehmen und fortführen?
Die Frage nach dem Leistungsbegriff des Selbst hat Richard Sennett seitdem nicht mehr losgelassen. In dem 1977 in den USA und dann 1983 in Deutschland herausgekommenen Buch über „Verfall und Ende des öffentlichen Lebens“, das in der deutschen Übersetzung noch die schlagenden Untertitel „Die Tyrannei der Intimität“ trägt, ist Richard Sennett einer neueren Wendung im Leistungsbegriff des Selbst nachgegangen. Es geht um die Umstellung von ethischer Aufrichtigkeit auf seelische Echtheit. Der vom Einzelnen geforderte Leistungsbeitrag ist komplexer geworden. Man muss nicht nur seine materielle, sondern auch noch seine seelische Produktivität unter Beweis stellen. Richard Sennett hat den Aufstieg eines neuen psychosozialen Mittelstandes im Blick, der sein durchaus legitimes berufliches Interesse an der Mobilisierung von Vorstellungen von seelischem Heil und persönlicher Ganzheit mit den Ideen von öffentlichem Glück verwechselt.
Aber nicht nur der Wohlfahrtsstaat, der diese neuen Ärzte, Therapeuten und Sozialpfleger ja in der Hauptsache finanziert, das ganze Design unseres Zusammenlebens gerät nach der Diagnose von Richard Sennett in der Sog dieses Dispositivs der Transparenz, der Echtheit und der Ganzheit. Das Glas in der Architektur signalisiert, dass man alles sehen soll und nichts verheimlichen darf. Wer damit nicht zurechtkommt, wird schnell zum zivilisatorischen Problemfall.
Richard Sennett macht uns auf die Subtilität dieses neuen Regimes von Beschämung und Entwürdigung aufmerksam, gegen das es nur ein Heilmittel gibt: die Wiederbesinnung auf die Rollenförmigkeit und Aspekthaftigkeit des öffentlichen Auftritts. Helmuth Plessner hatte das übrigens schon in seiner „Kritik des sozialen Radikalismus“ aus der Zwischenkriegszeit unter dem Titel „Grenzen der Gemeinschaft“ (1924) im Gegenzug zu Vorstellungen von einer totalen Gemeinschaft als den humanen Wert des Rollenspiels herausgestellt.
Wichtig für das Werk von Richard Sennett und für uns heute ist der Gedanke, dass man einen Begriff von Öffentlichkeit braucht, wenn man nicht der Intimisierungslogik der Macht anheimfallen will. „Character“ kann man nicht nur aus sich selbst holen und für sich selbst bewahren, es braucht eine Resonanz im Allgemeinen und einen Widerschein im Öffentlichen, damit man, mit Hegel gesprochen, eine Person mit Erfahrung und Individuum mit Respekt sein kann.
Damit sind wir bei dem zweiten Zentralbegriff im Werk von Richard Sennett: Der Hiphop-Begriff des Respekts beschäftigt ihn von Beginn seiner intellektuellen Tätigkeit an. Darin stecken Vorstellungen von Anerkennung, Ehre und Wertschätzung. Wem erweist man Respekt, wer zeigt einem Respekt, worauf beruht Respekt? Das führt sofort zur Frage der Autorität, der Richard Sennett 1980 ein Buch unter diesem Titel gewidmet hat. Welcher Autorität unterstelle ich mich, um Respekt zu bekommen, und welche Autorität behaupte ich, um Respekt einzufordern? Richard Sennett ist hier insofern ein Schüler Tocquevilles, als die Gleichheit nicht automatisch zu einer Beziehung des Respekts unter den Gleichgestellten führt. Im Gegenteil: Ein Regime der Gleichheit für alle kann, wie eine bestimmte Presse uns tagtäglich vorführt, die größte Respektlosigkeit gegenüber Einzelnen mit sich bringen. Neid und Missgunst heißen die entsprechenden Affekte. Die Psychologie der Respektlosigkeit unter der Bedingung der Gleichheit liegt für Tocqueville in der Statusunsicherheit der füreinander Einzelnen beschlossen. Wer von „Statuspanik“ (C. Wright Mills) geplagt ist, hat weder für sich noch für andere Respekt übrig. Ruhe kommt in den ewigen Vergleich nur dann, wenn man irgendeine Art von kollektivem Bezug, sei es der Ursprung oder die Wahl, für sich akzeptiert. So wie das Problem des „Character“ auf die Dimension von Allgemeinheit und Öffentlichkeit verweist, so bringt das Problem des Respekts die Dimension der Kollektivität ins Gespräch über unser gesellschaftliches Selbstverständnis.
Der dritte und letzte Begriff, mit dem uns Richard Sennett versorgt, wenn wir heute nach Lebensformen jenseits des Flexiblen Kapitalismus fragen, ist der Begriff des Handwerks. Das ist die Frage nach der Maßstäblichkeit in einer von allen guten Geistern verlassenen Art und Weise des Wirtschaftens, nach einem Sein in diesem ganzen turbulenten Seienden, nach einem Wert in der unaufhaltsamen Umwertung der Werte. Richard Sennetts Frage nach dem Handwerk ist mehr als eine idiosynkratische Frage eines Sozialwissenschaftlers, der, geboren 1943, so langsam in die Jahre gekommen ist und sich seiner Ursprünge als Musiker besinnt. Es geht um den Punkt einer richtigen, das heißt einer weder eskapistischen noch frivolen Kritik des „gegenwärtigen Zeitalters“ – und zwar im Augenblick seines Vergehens. Ist der Begriff des Handwerks dafür ein möglicher Ansatz?
Richard Sennett wurde 1943 in Chicago geboren. Er lehrt Soziologie und Geschichte an der New York University und an der London School of Economics. Zu seinen Veröffentlichungen gehört eine Reihe kulturhistorischer Bücher, wie „Der flexible Mensch“ (1998), „Respekt im Zeitalter der Ungleichheit“ (2002) und die „Kultur des neuen Kapitalismus“ (2005). Die Hauptthemen seiner Werke sind Ohnmacht und Orientierungslosigkeit moderner Individuen, die Oberflächlichkeit und Instabilität zwischenmenschlicher Beziehungen, die Vereinzelung des Menschen, Respekt, Handwerk sowie die Ausübung von Herrschaft. Termin: Richard Sennett ist Referent auf dem tazkongress (17. bis 19. April 2009, Haus der Kulturen der Welt). Sennett wird am Samstag, den 18. 4. 2009 um 17 Uhr über die „Entwertete Arbeit in einer globalisierten Welt“ sprechen.
Nur verbohrte Marxisten können glauben, dass wir uns auf einem Weg ins unbekannte Jenseits des Kapitalismus befinden. Im Gegenteil: Noch nie sind so viele und so starke Anstrengungen unternommen worden, den Kapitalismus zu retten. Es existiert zwar ein Unbehagen am Kapitalismus, selbst bei jenen, die ihn in den letzten Jahren so sirenenhaft besungen haben, aber zur Disposition will ihn niemand stellen. Einigkeit besteht freilich darin, dass wir mit dem Reichtum, den wir nach wie vor mit und durch den Kapitalismus schaffen, nach diesem Schuss vor den Bug fantasievoller, nachhaltiger und intelligenter umgehen sollten. Könnte Handwerk dafür ein Modell sein?
An dieser Stelle bietet es sich an, Heinrich Tessenow zu zitieren, der 1919 seine Schrift „Handwerk und Kleinstadt“ mit folgender Feststellung zur „geistigen Situation“ seiner Zeit beginnen lässt:
„Der große Werktag unserer letzten Jahrzehnte mit seinem rasenden Hin und Her, mit seinem fürchterlichen Spektakel usw. hat einen Neben- oder Unterton, der wie ein Probeläuten neuer Kirchenglocken ist. Es hat uns gewaltig Großes versprochen, aber er hat uns bisher doch auch immer wieder ebenso großartig betrogen“ (1919, S. 1).
Für Tessenow, den „heiligen Schreiner“, wie ihn Julius Posener als junger Mann genannt hat – später hat er eher das Widersprüchliche und Unklare dieses „Meisters des lapidaren Ausdrucks“ betont –, für Tessenow ist das Handwerk eine Praxisform ohne Betrug. Diese flieht das rein empfindsam Schöngeistige genauso wie das nur praktisch Nüchterne. In keinem Beruf ist seiner Überzeugung nach das Gegensätzliche so gleichartig wichtig wie im handwerklichen Beruf. Dem Handwerker ist zum Beispiel die technische Tüchtigkeit genauso wichtig wie die gestalterische Freiheit, die unternehmerische Selbstständigkeit genauso wie die gesellschaftliche Bindung, das Werkzeug an sich genauso wichtig wie das Handhaben des Werkzeugs. Tessenow geht in seiner Metaphysik des Handwerks sogar so weit, dessen Notwendigkeit als Ausweg des aus den Übertreibungen der industriellen Moderne resultierenden Ersten Weltkriegs auszupreisen.
Das würde Richard Sennett natürlich nicht unterschreiben. Gleichwohl wirbt er als guter amerikanischer Pragmatist für eine Praxis, deren Kennzeichen darin besteht, dass man von den Dingen lernen kann. Damit steht Richard Sennett ganz und gar nicht allein an der Front gegenwärtiger sozialwissenschaftlicher Theoriebildung: Mit ganz anderen Beobachtungen aus der Untersuchung wissenschaftlicher Labors pflichtet ihm Bruno Latour mit seiner Soziologie der Dinge bei oder Luc Boltanski mit seinem Ansatz einer nicht einfach kritischen Soziologie, sondern einer Soziologie der Kritik. Diese Autoren verbindet die Idee einer Materialität des Sozialen, die eine alle Bodenhaftung verlierende Theorie der übersozialisierten Gesellschaft hinter sich lässt. Gesellschaft ist mehr als nur das Spiel von Erwartungen und Erwartungserwartungen, es sind immer die Dinge dabei, die den Menschen zur Übertreibung locken wie zur Demut zwingen.
Und ganz ähnlich wie bei Tessenow findet sich bei Sennett die Idee eines „dritten Wegs“ für die Weckung des Wunsches, hart und gut zu arbeiten. Der Sozialismus ist mit dem moralischen Imperativ, für das Wohl der Gemeinschaft zu arbeiten, nach Richard Sennetts Ansicht genauso gescheitert wie der Kapitalismus, der auf die Belohnungen des Wettbewerbs setzt. Den unmotivierten Arbeitern im Sozialismus stehen die deprimierten Beschäftigten im Kapitalismus gegenüber. Handwerk stellt demgegenüber eine Praxis dar, die die Motivation zum Weiter- und Bessermachen aus der Tätigkeit selbst erzeugt. Die Logik des Handwerks ist nicht nur im Handwerk vorhanden, sondern auch im Labor, in der Forschungs- und Entwicklungsabteilung oder im Architekturbüro. Respekt gebietende Autorität ergibt sich dabei ebenso von selbst wie die Vorstellung eines vielgestaltigen Charakters mit öffentlicher Resonanzfähigkeit. Jedenfalls könnte man so die „konkrete Utopie“ zusammenfassen, die uns Richard Sennett für die Zeit nach dem Flexiblen Kapitalismus anempfiehlt.
So positiv amerikanisch und so gut pragmatistisch sich das auch anhört, Richard Sennett kann wie Henry James oder E. A. Poe nicht verleugnen, dass er ein Amerikaner ist, der von Europa träumt. Seine Soziologie ist von Anfang an Ausdruck des Leidens an einer Gesellschaft, die nichts als Gesellschaft ist. Sie sucht nach Auswegen aus einer Welt, wie sie John Updike, Philip Roth oder Richard Ford als System der reinen Immanenz beschreiben, das jeden Moment zu implodieren droht, aber auf rätselhafte Weise immer weiterbesteht. Begriffe für solche Auswege sind Öffentlichkeit, Kollektivität oder Handwerk. Da reicht jedes Mal etwas Nichtgesellschaftliches in die Gesellschaft und öffnet den Raum der Immanenz für eine befreiende Transzendenz. Dem theologischen Ausweg eines Operierens mit dem metaphysischen Überschuss hat sich Sennett bisher versperrt. Nicht mal der Geschichtsphilosophie eines Marx (positiv) oder Adorno (negativ) ist er auf den Leim gegangen. Träumerisch war er eigentlich immer schon, fromm ist er noch nicht geworden.
HEINZ BUDE, Jahrgang 1954, ist Soziologe