„Die Angst ist größer geworden“

Immer mehr Frauen bringen ihre Kinder per Kaiserschnitt zur Welt. Die Frauenärztin Anke Kleinemeier und die Hebamme Angelica Ensel von der „Gemeinsamen Initiative Schwangerenbetreuung“ in Altona halten dies für eine problematische Entwicklung. Die Risiken auch eines „sanften“ Kaiserschnitts würden unterschätzt

ANKE KLEINEMEIER, 43, Frauenärztin, und ANGELICA ENSEL, 53, Hebamme, arbeiten bei der „Gemeinsamen Initiative Schwangerenbetreuung“ in Altona mit. FOTOS (2): PRIVAT

taz: Warum lassen sich mehr Frauen per Kaiserschnitt entbinden?

Angelica Ensel: Ich finde die Frage falsch gestellt. Die Frage ist doch vielmehr, warum ist unsere Kaiserschnittrate derzeit so hoch? Es sind ja die wenigsten Frauen, die einen Kaiserschnitt selber wählen.

Wer entschiedet das dann?

Ensel: Dass die Kaiserschnittrate so hoch ist, hat eine Menge Gründe. Sehr viel schneller wird heute entschieden, dass eine Geburt mit Kaiserschnitt beendet wird.

Von wem?

Anke Kleinemeier: Von dem entbindenden Team im Kreißsaal. Da geht es anders zu als vor 20 Jahren, da herrscht ein ganz anderer Druck. Und die Angst davor, das etwas passieren könnte, ist größer geworden, auch wegen der rechtlichen Konsequenzen.

Ensel: Man will heute keinerlei Risiko mehr eingehen, die Eltern sind sehr schnell bereit zu klagen.

Und ein Kaiserschnitt erscheint da als die Lösung?

Kleinemeier: Es handelt sich hier um einen Paradigmenwechsel. Es wird suggeriert, dass ein Kaiserschnitt risikoärmer ist, auch für das Kind, und dass es planbarer ist. Dass führt dazu, dass sich mehr Eltern dafür entscheiden.

Und stimmt das nicht, dass ein Kaiserschnitt risikoärmer ist?

Kleinemeier: Nein. Ein Kaiserschnitt ist eine Operation mit dem Risiko einer Thrombose, einer Wundheilungsstörung oder einer verstärkten Blutung, Auch wenn er als „sanfter Kaiserschnitt“ deklariert wird, müssen die eröffneten Gewebeschichten wieder zugenäht werden, was zu Verwachsungen führen kann, die wiederum Langzeit-Schmerzen zur Folge haben können.

Ensel: Das ist das, was wir Hebammen erleben. Die Narbe kann lange noch weh tun und Probleme bereiten, die Frau ist in ihrer Beweglichkeit eingeschränkt. Die gesamte Rückbildung verläuft langsamer. Und da haben wir die Langzeitschäden noch gar nicht erwähnt.

Was für Langzeitschäden?

Kleinemeier: Verminderte Fruchtbarkeit, geburtshilfliche Komplikationen wie das Einwachsen der Plazenta in die Gebärmutterwand und das Reißen der Gebärmutterwandnarbe bei der nachfolgenden Geburt. Beides ist mit extremem Blutverlust verbunden und kann das Leben von Mutter und Kind gefährden.

Ensel: Was gar nicht erwähnt wird bei der Aufklärung über den Kaiserschnitt ist, dass eine gelungene normale Geburt, die natürlich mit Schmerzen verbunden ist, eine große Ressource sein kann. Wenn die Frau es geschafft hat, das Kind zur Welt zu bringen, stärkt sie das. Der Kaiserschnitt dagegen erschwert das Bonding.

Das Bonding?

Ensel: Bei einer natürlichen Geburt werden eine Fülle von Oxytocin und Endorphinen ausgeschüttet, und dieser Hormonkick ist eine ganz wichtige Basis für den Beginn der Liebesbeziehung zwischen Mutter und Kind.

Ist ein Kaiserschnitt besser für das Kind?

Ensel: Wenn die Geburt normal verläuft, ist sie für das Kind ein positiver Stress. Das Fruchtwasser wird aus der Lunge herausgepresst. Nach Kaiserschnitten sind Atem- und Anpassungsstörungen sehr viel häufiger, weil die Kinder ohne Vorbereitung einem extremen Druckunterschied ausgesetzt werden. Dazu kommt, dass die geplanten Kaiserschnitte häufig vor dem errechneten Termin vorgenommen werden. Dadurch besteht die Gefahr, dass die Kinder zu früh geboren werden und entsprechende Schwierigkeiten haben können.

Wenn der Kaiserschnitt so viele Nachteile hat, warum wird er dann so oft gemacht?

Kleinemeier: Kaiserschnitte sind für die Kliniken lukrativer. Erstens sind sie planbarer, zweitens bezahlen die Krankenkassen fast das Doppelte dafür. Außerdem sind Kaiserschnitte nicht so personalintensiv. Wenn eine Geburt über zwei Schichten geht, sind mehrere Hebammen und Ärztinnen oder Ärzte involviert. Ein Kaiserschnitt dagegen dauert etwa 45 Minuten.

INTERVIEW: DANIEL WIESE