Die Temperierung der Töne

Der US-Amerikaner Ben Johnston gehört zu den radikalsten Komponisten der Gegenwart. Sein Harmonieverständnis beruht auf einer reinen Tonstimmung. Beim Festival MaerzMusik findet eine der seltenen Aufführungen seiner Werke statt

Harmonieproportio- nen entsprechen dem Gleichgewicht der Seele, sagt Johnston

VON TIM CASPAR BOEHME

Es muss eine frustrierende Erfahrung sein, große Werke hervorzubringen, die kaum jemand kennt. Der Komponist Ben Johnston dürfte dies schon häufiger am eigenen Leib zu spüren bekommen haben. Seine Musik wird äußerst selten gespielt, jedoch nicht, weil das Interesse an ihr zu gering wäre, sondern weil sie kaum zu bewältigen ist. Für einen radikalen Erneuerer wie Johnston ist das bitter. Immerhin: Sein vor dreißig Jahren entstandenes fünftes Streichquartett wird morgen im Programm von MaerzMusik zum ersten Mal in Deutschland aufgeführt.

Wenn der Name Johnston hierzulande eher für Schulterzucken als für beifälliges Nicken sorgt, ist das nicht unbedingt ein Zeichen von Ignoranz. Schade ist es trotzdem, denn er steht mit Komponisten wie seinem Lehrer Harry Partch für eine völlig eigenständige Musik, die mit der abendländischen Musiktradition auf noch grundlegendere Weise gebrochen hat als die „konservative Revolution“ Arnold Schönbergs. Während der Begründer der Zwölftonmusik die Dissonanz emanzipierte, um die herkömmlichen harmonischen Strukturen zu verabschieden, dabei aber dieselben zwölf Töne verwendete wie Schubert oder Brahms, setzt Johnstons Ästhetik beim Material des Musikmachens an – bei den Tönen selbst.

Wer die Töne eines Klaviers oder einer Gitarre für naturgegeben hält, kann von dem 1926 in Macon, Georgia geborenen Johnston eines Besseren belehrt werden. Denn das Tonmaterial, aus dem die abendländische Musik nach Bach geschaffen wurde, ist Ergebnis eines Kompromisses, der für ein Maximum an Flexibilität beim Wechsel von einer Tonart in die andere sorgte. Heutige Instrumente, etwa das Klavier, sind so gestimmt, dass die Tonabstände von Taste zu Taste genau gleich sind. Man spricht auch von „gleichstufiger Temperierung“. Diese Temperierung ergibt keine „sauberen“ Töne, sondern beruht auf dem systematischen Verstimmen der einzelnen Töne, um sie einander anzupassen.

Für Johnston – er besitzt das absolute Gehör – sind diese Kompromisse allerdings unerträgliche Verwässerungen der eigentlichen Harmonie. Denn als in der Antike die Grundlagen für heutige Tonleitern gelegt wurden, richtete man sich nach einem anderen Ordnungsprinzip. Die von den Pythagoreern etablierten „reinen Intervalle“ sind Töne, die nach harmonischen Prinzipien aufgeteilt werden. Man entdeckte damals, dass die Tonabstände, also die einzelnen Frequenzen, in denen die Töne schwingen, ganzzahligen Verhältnissen entsprechen. Am einfachsten liegt der Fall bei einer Oktave: dort schwingt der obere Ton doppelt so schnell wie der untere (in Zahlen: 1:2). Ähnlich elegante Proportionen gibt es auch bei den kleineren Intervallen wie Quinte (2:3), Quarte (3:4) und Terz (5:4). Für viele Akkordfolgen, wie sie in der tonalen Musik üblich sind, lassen sich die reinen Töne nicht verwenden, sie klingen oft „schief“. Bis zur gleichstufigen Temperierung gab es daher immer wieder neue Versuche, diesen Zwiespalt durch modifizierte Stimmungen zu beseitigen. Auf die Möglichkeit einer Alternative zur gleichstufigen Temperierung stieß Johnston beim Lesen von Harry Partchs Buch „Genesis of a Music“, in dem der hemdsärmelige Ikonoklast ein System entwirft, das mit herkömmlichen Tonleitern nur noch wenig gemein hat. Partch teilte seine Oktave statt in zwölf in stolze 43 Töne und baute eigene Instrumente für diese Stimmung. Konzerte mit Werken von Partch sind recht selten.

Johnston, der eine Weile bei Partch studierte, wollte nicht das Schicksal seines Mentors teilen. So entschied er sich, für konventionelle Instrumente zu komponieren, und machte das Streichquartett zum bevorzugten Medium. Für seine Kompositionen entwickelte er ein Tonsystem in reiner Stimmung. Der Obertonreichtum seiner Quartette ist enorm und reicht von klaren Harmonien bis zu flirrenden Mikrotönen. Obwohl seine Musik den Spielern immense Leistungen abverlangt, ist Johnston nicht an einem elitären Avantgardeprojekt interessiert. Spätestens seit seinem vierten Streichquartett „Amazing Grace“ orientiert er sich an klassischen Formen, um seine Musik nachvollziehbarer zu machen. Das hält ihn nicht davon ab, seine Ästhetik mit philosophischen Überzeugungen zu verbinden, die nicht jedem einleuchten dürften. Johnston ist stark beeinflusst von der platonischen Idee, dass die Harmonieproportionen der Musik dem Gleichgewicht der Seele entsprechen. Mit Theodor W. Adorno glaubt er zudem an die gesellschaftliche Relevanz von Musik. Bei Johnston ergibt das in etwa folgenden Befund: Die seelischen Zerwürfnisse der modernen Gesellschaft sind auch ein Ergebnis der unsauberen Frequenzen, wie sie in der gegenwärtigen Musik vorherrschen. Mit reiner Stimmung lässt sich diesem Trend entgegenwirken, da sie für „maximale Klarheit“ sorgt. Man muss diese Ansicht nicht teilen, um die Musik Johnstons zu mögen. Als Musiker muss man jedoch den festen Willen haben, sich ihr zu stellen: Das Streichquartett Nr. 7 aus dem Jahr 1984 wurde bis heute nicht aufgeführt. Man sollte seine Werke hören, wo immer man kann.

Kairos Quartett, Jüdisches Museum, Glashof, 22. März, 16 Uhr