: Die eigene Haut retten
Entsorgung der Gefühle: Theaterpremieren in Leipzig und Dresden fragen, wie sich Heimat herstellt. Armin Petras erzählt in „Alkestis“ vom Verlust emotionaler Sicherheiten, Anna Badora macht aus Christoph Heins „Landnahme“ Provinztheater
VON KATRIN BETTINA MÜLLER
Armin Petras hat es wieder geschafft: eine große Fallhöhe zu riskieren und alles zu gewinnen. Seine Inszenierung von „Alkestis, mon amour“ im Schauspiel Leipzig verschweißt den antiken Dramenstoff von Euripides, in dem der Tod zur Verhandlungssache zwischen Göttern und Menschen wird und all ihre moralischen Vorsätze damit maßlos überfordert, so nahtlos mit einem realistischen Familienbild der Gegenwart, dass man keine Sekunde an der Glaubwürdigkeit der Figuren zweifelt. Sie könnten um die Ecke wohnen, die dort vor uns, von drei Seiten einsehbar, in den kleinen Räumen einer Art Sandburg hantieren, als stünde nicht das Sterben von Alkestis (Anja Schneider) an, die anstelle ihres Mannes Admetos (Marco Albrecht) in den Tod geht, sondern bloß ein Tagesausflug. Das Bühnenbild, das Michael Graessner in den kleinen Raum der Nebenspielstätte Neue Szene vom Schauspiel Leipzig gestellt hat, erinnert an den Blick in eine Ausgrabungsstätte wie an die Platzbeschränkung im sozialen Wohnungsbau. Ohne den ständig arbeitenden Müllschlucker im Zentrum würde hier alles bald aus den Nähten platzen. Multifunktionsklappen in jeder Wand, um den Alltag wortwörtlich im Griff zu haben – nur die Gefühle, die lassen sich weder verstauen noch rückstandsfrei entsorgen. Sie sind zu groß für den engen Raum und erst recht für seine Bewohner, die sich diesen Verhältnissen anpassen mussten.
Petras inszeniert mit einer Empathie, die nichts Gefühliges und Sentimentales hat. Es geht um die Angst vor dem Tod und die Ausflüchte, die Admetos und sein Vater Pheres (Berndt Stübner) suchen, um sich nicht an der Stelle von Alkestis zu opfern. Deren kleine Kinder, Eumelos und Marie, hören immer mit, und die praktische Frage, wie eine Mutter ihre Kinder über den eigenen Tod trösten kann, wird am Ende so wirklich, dass man heulen möchte. Der Rhythmus der Sprache folgt dem Versmaß der klassischen Dichtung, und doch glaubt man Wort für Wort, dass so Pheres redet, der uns zuerst als ein Rentner begegnet, eben vom Joggen zurückgekehrt. Erst einmal beklagt er den kommenden Tod der Schwiegertochter, wirklich trauernd, aber noch ist seine Trauer handhabbar. Da weiß er noch nicht, wie sein Sohn ihm zusetzen wird mit dem Verlangen, für Alkestis einzuspringen und Gift zu trinken.
Es ist die Scham über die eigene Schwäche, in der Vater und Sohn sich dann die größten Verletzungen zufügen und in der Verteidigung des eigenen Rechts, weiterzuleben, verrennen. Niemand tröstet derweil Alkestis, die währenddessen ihren Abschied wie eine kleine Reise vorbereitet, die Wohnung aufräumt, den Koffer packt, die Kinder versorgt. Das Wichtigste ständig zu unterlassen, nämlich Alkestis beizustehen, bringt die Männer fast um, aber eben nur fast. Wie sie dieses Tief durchstehen, um die eigene Haut zu retten, ist großartig gespielt.
Familiengeschichten, schwache Väter, die Perspektive der Heranwachsenden und eine nie versiegende Suche nach Liebe und Geborgenheit in der Familie, das war auch der Stoff in den Fritz-Kater-Stücken von Armin Petras, die ihm als Trilogie den Mülheimer Preis als Dramatiker des Jahres 2003 einbrachten. In allen drei Stücken hatte sich auch die deutsche Nachwendegeschichte eingeschrieben als eine der Verluste nicht nur an sozialen, sondern vor allem an emotionalen Sicherheiten. An diese Patchworkfamilien mit ihren Notlösungen knüpft „Alkestis, mon amour“ in der Vertrautheit, die sich zu den Figuren einstellt, unmittelbar an. Aber während die Geschichten der Fritz-Kater-Stücke sich oft ziellos verzweigten, wie ein Leben eben, das man noch nicht von seinem Ende her als geschlossene Erzählung begreifen kann, greift in „Alkestis, mon amour“ eine treibende, klassische Dramenstruktur voll auf dieses Leben zu. Ihr Sog trägt einen auf hoher Welle durch dieses Stück und auch durch alle Veränderungen, die Petras am Stoff vorgenommen hat.
Es gelingt ihm sogar, jenen kritischen Punkt zu umschiffen, der Euripides’ Drama immer ins Unglaubwürdige abgleiten ließ, den glücklichen Schluss, wenn Alkestis mit Herakles’ Hilfe aus dem Totenreich zurückkommt. Petras versucht gar nicht erst, das als Glück zu verkaufen: Sie kommt wieder und sieht aus wie eine lebende Tote aus „From Dusk Till Dawn“, die nicht vergessen hat, wie man sie fallen ließ. Aus dem, was als großer Beweis ihrer Liebe geplant war, ist eine unumkehrbare Aufdeckung des Versagens geworden.
Ein antikes Drama, Wort für Wort neu geschrieben und ein Roman als Vorlage für die Bühne – den Kritikern des postdramatischen Theaters gilt das eine wie das andere als Ausweis für die Allmachtsfantasien von Regisseuren, die ihr Ego an die Stelle von Autor und Werk setzen. Aber Armin Petras beweist, dass der Eingriff als Autor keineswegs zur Beschädigung des Tragödienkerns führen muss, sondern diesen nah wie kaum noch für möglich gehalten bringen kann. Eine solche Nähe zu den Figuren hätte auch das Stück „Landnahme“ gebraucht, das am gleichen Wochenende in Dresden uraufgeführt wurde. Beide Stücke fragen danach, wie sich Heimat herstellt und das Befinden des Dazugehörens; und beide erzählen, wie das Opfer, der Ausgeschlossene, auf dessen Kosten sich die übrige Gemeinschaft erhält, gehasst wird, weil er an das Unrecht erinnert, das man ihm antut. „Landnahme“, das gleichnamige Buch von Christoph Hein, wird zu Recht gelobt als ein lange erwarteter „Deutschlandroman“ (siehe taz, 20. 1.). Aber was der unaufgeregten Sprache der fünf Erzähler im Roman gelingt, die Menschen mit all ihren Kleinherzigkeiten und Kompromissen, mit Missgunst, Feigheit und Verstellung anzunehmen und sich darin wiederzufinden, fehlt dem langen Bühnenabend in der Gastregie von Anna Badora.
Die eigentlichen Protagonisten von „Landnahme“ sind Bernhard Haber, der als Schuljunge in den 50er-Jahren in eine sächsische Kleinstadt kommt, und die Kleinstadt selbst. Es gibt fünf Erzähler, für deren Lebensthema Haber oft nur eine Nebenfigur ist, ein nicht dazu Gehörender, Kind von Vertriebenen. Aber gerade, wie sie ihn am Rande stehen lassen und in ihren Erzählungen nicht erschrecken über die Ungeheuerlichkeit, mit der da ständig nach unten getreten wird, lässt im Roman die diffuse Bedrohung, unter der er aufwächst, so unheimlich glühen. Das verwinkelte und fragile Gefüge aus Mentalitäten, aus Geschäften und aus politischem Kalkül eines Gemeinwesens sorgfältig herauszupräparieren, ist eine der Stärken des Romans und empfiehlt den Stoff für ein Stadttheater, das sich auch Selbsterforschung als Projekt auf die Fahnen geschrieben hat. Man ahnt schon, warum der Intendant Holk Freytag, der sich und sein Haus auch in politischen Debatten zu positionieren versucht, begeistert zugegriffen hat. Der Uraufführung in der Nacht vor der Landtagswahl gingen gut besuchte Lesungen von Christoph Hein voraus. Am nächsten Tag gehörte die NPD zu den Gewinnern, und es sieht nicht so aus, als könnte man Heins Geschichte vom Dichtmachen der inneren Grenzen zu den Akten legen.
Die Stadt kommt in der Inszenierung auch am besten weg, sie erhält Konturen und Farben, nicht nur im Bühnenbild aus vielen kleinen Hausmodellen, die anfangs puppig wirken und sich am Ende als ideales Spielmaterial einer Monopoly-Runde erweisen, als die Erzählung in der Nachwendezeit angekommen ist. Wie sich neue Macht und Besitz auf einem Schweigen über die Vergangenheit etablieren, hat man am Ende des Lehrstücks gut begriffen und auch, welchen Preis Bernhard Haber für die Beteiligung am Haben und Sein bezahlt hat – nämlich sich in seinen Wünschen von denen seiner Feinde nicht zu unterscheiden.
Aber die Inszenierung springt dennoch viel zu kurz in ihrer Eins-zu-eins-Übersetzung von Dialogen und Erzählpassagen. Vor allem ist sie erschreckend bieder. Der Roman verhandelt Biederkeit und Normalität, ohne sie anzuklagen – aber lässt auch ständig erkennen, wie grausam sie ist. Diese Hintergründigkeit fällt in der Inszenierung flach. Ebenso wie ihr die entscheidende Spannung fehlt: Haber im Roman ist einer, den man immer nur aus zweiter Hand kennt, dessen Bilder nicht zusammenpassen, der alle durch seine Schweigsamkeit irritiert und durch den Rückzug in sich selbst. Man interessiert sich für ihn, weil er nicht zu fassen ist, und ahnt doch, dass die Unfassbarkeit eine Form des Abwehrzaubers gegen den Hass ist, den er aushalten muss. Als Figur auf der Bühne aber ist er ständig anwesend und gar kein Rätsel mehr. Das ist kein Stück über die Provinz, sondern provinzielles Theater geworden.