: „Das reißt den Osten weg“
INTERVIEW STEFAN REINECKE
taz: Herr Engler, die NPD ist in Sachsen fast so stark wie die SPD. Ist der Osten, plakativ gesprochen, zivilisatorisch auf dem Rückweg?
Wolfgang Engler: Der Osten formuliert deutlicher und schärfer, was es im Westen auch gibt: die Krise der Volksparteien. Im Westen drückt sich das bislang eher in Wahlenthaltung aus. Aber das Phänomen ist ähnlich: Die Fähigkeit der großen Parteien, Wähler zu mobilisieren, scheint zu schwinden. Aber richtig ist, dass die NPD in Sachsen mehr als doppelt so viel Prozent geholt hat wie im Saarland.
Sind das wirklich rechtsextreme Stimmen – oder geht es eher um Protestaffekte ohne festen Inhalt?
Es gibt beides, aber wohl mehr Proteststimmen. In der Strategie, nicht in den Gründen, erinnert das an ein Verhalten, das es am Ende der DDR gab. Ab Mitte der 80er gab es auch eine Verzweiflung, die Teile der jungen Erwachsenen erfasste. Damals hing das mit dem Gefühl zusammen, dass das Leben zu festgefügt ist, heute ist es wohl eher ein Mangel an sozialer Bestimmung. Damals gab es den kalkulierten Effekt, wie man eine Regierung, die sich antifaschistisch nannte, am wirksamsten trifft: mit dem Rückgriff auf Nazisymbole. Heute ist der Grund gegenteilig: Damals war es das Gefühl, alles steht schon fest in meinem Leben – heute, dass man gar nicht in das soziale Leben hineinkommt, dass man gar nicht Tritt fasst.
Damals provozierte man so das ZK, heute den Westen?
Das spielt mit. Heute geht es um den Protest gegen die da oben, die einem das Leben vermiesen, und es gibt das Gefühl, verlassen, abgekoppelt zu sein. Die Angelsachsen haben dafür den Begriff ugly citizen, des hässlichen Bürgers, der sich gerade noch politisch äußert, aber in einer Art, die schon eine Verwerfung des politischen Systems ist.
Die Wiederwahl der DVU, die ja praktisch in Brandenburg nicht existiert, ist eigentlich eine verschärfte Form der Wahlenthaltung.
Ja, kann man so sagen. Die Botschaft der Erstwähler, die NPD gewählt haben, ist: Das war vielleicht unsere letzte politische Stellungnahme. Danach kommt der Rückzug oder eine weitere Radikalisierung.
Ist der Erfolg von DVU und NPD das Ergebnis der Abwanderung aus dem Osten – oder ist das zu spekulativ?
Nein, das ist das Ergebnis der lang anhaltenden negativen Selektion unter den Jüngeren. Es gibt dort seit Mitte der 90er eine Vermännlichung, weil mehr junge Frauen abwandern. Das sieht man in jeder ostdeutschen Kleinstadt – die Jugend ist spärlich dort und vor allem männlich. Wer weg geht, ist meist weltoffener und geistig beweglicher – wer bleibt, eben weniger. Da setzt dann der Effekt ein, dass man sich gegenseitig in seiner Perspektivlosigkeit noch bestätigt – aus uns kann nichts werden. Die Gebildeten, vor allem Frauen, wandern ab. Der stark männliche Akzent macht diese Verzweiflungsselektion militanter.
Das heißt, wir müssen uns darauf gefasst machen, dass die NPD dort eine Zukunft hat?
Ja, zumal man bislang hoffen konnte, dass die PDS diese Szene bindet. Im Saarland haben 13 Prozent der Erstwähler NPD gewählt, in Sachsen zwanzig, mehr als die PDS. Dass die PDS diese Klientel nicht mehr in die Demokratie und die politische Repräsentation integriert, ist mehr als beunruhigend.
Ausdünnung der Mitte, Stärkung der Rechtsextremen – steuert der Osten auf Weimarer Verhältnisse zu? Oder ist das ein Angstbild, das nichts erklärt?
Im Moment wohl noch Letzteres. Aber es gibt die bedrohliche, dauerhafte Verarmung der Jüngeren. Trotz der gigantischen Transferleistungen aus dem Westen gibt es auf das Kardinalproblem im Osten, die Arbeitslosigkeit, nun schon seit 14 Jahren keine Antwort. Das kann den Osten wegreißen. Wenn sich ganze Regionen in Verzweiflung, Depression und Radikalisierung verabschieden, ist das bedrohlich für das Ganze. Das ist nicht Weimar, aber es kann in diese Richtung gehen.
Ein zusätzliches verschärfendes Element scheint der wieder akute Ost-West-Gegensatz zu sein. Der Westen steckt in der Krise. Dort schwindet die Lust, für den Osten zu zahlen, zumal das ohnehin die Probleme nicht löst. Das ist neu. Welche Rolle hat etwa die Debatte um Horst Köhler und die Angleichung der Lebensverhältnisse für die Wahlen gespielt?
Die Ost-West-Aversionen werden stärker. Das Wahlergebnis ist Resultat dessen – und es kann im Westen den Eindruck verstärken, dass alle Bemühungen um den Osten politisch und finanziell für die Katz sind. Ich glaube, im Osten hat, mehr als die Köhler-Debatte, die Idee tief verletzt, Verwaltungspersonal von der Telekom in den Osten zu schicken, um dort Hartz IV zu verwirklichen. Das Argument lautete: Es gebe im Osten keine Verwaltungserfahrung. Das kam dort, nachdem man sich seit fast 15 Jahren in das Rechts- und Verwaltungssystem eingearbeitet hat, gar nicht gut an. Die Botschaft war: Auch administrativ ist auf die Ostler kein Verlass. Das hat viele ungeheuer empört. Das hat die Wahlen beeinflusst: Jetzt zeigen wir denen mal, was eine Harke ist.
Der NPD-Erfolg ist ein Echo auf die verweigerte Anerkennung. Ist das wirklich so?
Im Osten spielt beides eine Rolle: die miese ökonomische Lage und mangelnde Anerkennung. Es verhungert ja niemand. Aber entweder hier bleiben und nichts werden oder weggehen zu müssen – das ist eine schroffe Wahl. Wenn man zudem nicht bekommt, worauf man Anspruch zu haben glaubt, nämlich eine gleichberechtigte, respektable Behandlung, dann geschieht, was wir in Sachsen erlebt haben.
Hans-Joachim Maaz deutet die Lage der Ostdeutschen anders: als Selbstentmündigung. In der DDR haben Staat und Partei alles geregelt, dann sollte Helmut Kohl diese Rolle spielen. Die Stimme für PDS und Rechtsextreme drücken demnach Sehnsucht nach dem Obrigkeitsstaat aus. Richtig?
Nein, im Kern halte ich diese These für Blödsinn. Wenn man die einzelnen Biografien von NPD-Wählern anschaut, dann mag da was dran sein. Es mag einen Zusammenhang zwischen autoritärem Elternhaus und dem Wahlverhalten geben. Aber die kollektive Erfahrung ist anders. Die DDR-Deutschen haben den Staat abgelehnt, viel mehr als die Westdeutschen. 1989 war ja vor allem eine Revolution gegen diesen Staat. Die These, dass die Leute mit Kohl auch Honecker wieder haben wollten, leuchtet nicht ein. Ich glaube, die Ostdeutschen sind viel eher staatsmüde, entnervt, gereizt, wenn nun der Staat, wie beim Alg II, in ihren privaten Verhältnissen rumschnüffeln will.
Staats- und Autoritätsfixierung, Selbstentmündigung – das alles unzutreffend?
Ja. Das sind eher Projektionen des Westens. Was soll denn für diese Staatsfixierung sprechen? Der Sozialstaat scheint mir eher im Westen selbstverständlich zu sein, im Osten hat man das gebrochener erlebt. Und: Es gab in der DDR keine innere Identifizierung mit dem Staat. Das zeigt auch das Wahlverhalten der Ostdeutschen seit 1990: Wir haben es mit radikal modernen Wählern zu tun, ohne Tradition und Bindung. Deshalb sind die Gewinne und Verluste im Osten immer extremer. Die Leute verhalten sich wie Konsumenten: Was gefällt, wird gekauft – wenn es nicht funktioniert, wird etwas anderes gekauft. Ein Zeichen für eine starke Bindung an den Staat ist das gerade nicht. Ausgenommen war davon bislang die PDS. Aber bei den Jüngeren scheint sich das zu ändern: Man wählt sie; wenn sie nicht sofort bringt, was man will, wird sie abgewählt.
Köhlers Feststellung, dass es keine gleichen Lebensverhältnisse geben wird, hat den Osten offenbar auch gekränkt. Aber hat er damit nicht Recht?
Köhler hat nur wiederholt, was die Dohnanyi-Kommission zuvor gewissermaßen amtlich festgestellt hatte: Der Osten ist als Ganzes, in der Fläche, nicht gleichmäßig zu entwickeln. In Zentren, wo ökonomische Kristallisationskerne existieren, ist Entwicklung möglich. Aber wo dies bisher nicht gelungen ist, ist es künftig sinnlos, Geld zu investieren. Wo es nichts gibt, wird auch nichts mehr entstehen.
Keine Autofabrik in Prenzlau …?
Ja. Was die Dohnanyi-Kommission sagt, ist vielleicht eine wirklich realistische Feststellung. Aber für die Leute dort verschwindet damit die letzte Hoffnung – die Vorstellung, dass es nicht in zehn, nicht in zwanzig, aber vielleicht in dreißig oder vierzig Jahren besser wird. Jetzt hören die Leute dort, amtlich bestätigt, dass diese Vorstellung kein sinnvolles Ziel mehr ist. Weil, wie der Bundespräsident sagt, der Preis zu hoch ist und dies das gesamte Staatswesen in die Krise und Schuldenfalle treibt. Es gibt Regionen, die abgeschrieben werden. Und niemand macht sich die Mühe, an die Stelle des nun abgeräumten Zieles ein anderes zu setzen.
Und das wäre?
Worin sich Ost- und Westdeutsche wiederfinden könnten, wäre die Idee der Bildung. Unsere Schwächen sind bekannt. Aber wir haben immer noch ein exzellentes System der Berufsausbildung, mit Fachhochschulen und einem System der angewandten Forschung, das vorbildlich ist. Deutschland hat die Fähigkeit für Bildung, es hat die institutionellen und geschichtlichen Voraussetzungen. Ich glaube, Bildung zu fördern, geht auch bei knappen Kassen, weil man verständlich machen kann, wofür gespart wird. Damit kann man kaum ehrgeizig genug sein. Und wenn wir das gebildetste Volk der Welt werden wollen, dann ist dies kein Ziel, das andere Länder kränken könnte.
Also Bildung als Lösung für das Sinnvakuum, das die deutsche Vereinigung hinterlassen hat?
Als Deutschland am Boden lag, etwa nach dem Sieg Napoleons, haben Intellektuelle, Fichte, Schleiermacher, Humboldt, eben diese Idee vertreten: Das Einzige, was uns rettet, ist Bildung. Wir werden militärisch nicht so stark wie Frankreich, wirtschaftlich einstweilen nicht so stark wie England, aber wir können das gebildetste Volk der Welt sein. Mir scheint dies heute das einzige Ideal zu sein, das Deutschland fassen könnte, das aus dem Gejammer und der Schleife von wechselseitigen Vorwürfen zwischen Ost nach West herausführen könnte. Dies ist ein sinnvolles Ziel, gerade weil es auf die Zukunft verweist, weil es sich später ökonomisch auszahlt. Wenn Leute kulturell etwas mit sich anzufangen wissen, spart das übrigens Kosten für die Polizei.