Kinderstube in Gefahr

Internationale Konferenz über Folgen von Ölunfällen für Meerestiere: Eine Katastrophe in der Deutschen Bucht ist überfällig. Ihre Folgen wären fatal

30.000 Tonnen schwarzer Schlick würden den Nationalpark teeren

aus HamburgGERNOT KNÖDLER

Wenn sich Olav Giere den Schiffsverkehr nach Wilhelmshaven vors geistige Auge führt, kommt ihm das Gruseln. Dass es beim Anlaufen von Deutschlands größtem Ölhafen noch nicht zu einem Unfall gekommen ist, grenzt für den Zoologen von der Universität Hamburg an ein Wunder. „Statistisch sind wir längst überfällig“, sagt der Professor. Sollte das Wunder eines Tages schlapp machen, stünde die Deutsche Bucht vor einer Katastrophe, wie es sie seit Menschengedenken nicht gegeben hat. „Und Sie könnten nichts machen“, sagt Giere.

Der Professor sprach auf einer Tagung über die Folgen von Öl-Verschmutzungen für Meerestiere. Der Internationale Tierschutz-Fonds (Ifaw) und das International Bird Rescue Research Center hatten 200 Wissenschaftler und Aktivisten nach Hamburg eingeladen, um zu diskutieren, wie solche Unfälle verhindert und wie verölte Tiere gerettet werden können. Giere machte klar, was auf dem Spiel steht.

Die Zufahrt zum Ölterminal in Wilhelmshaven ist nach seinen Angaben extrem schwierig. Die großen Tanker, die hier täglich einlaufen, hätten oft nur wenige Zentimeter Wasser unterm Kiel. Bis einer von ihnen auflaufe, sei eine Frage der Zeit. Gieres Alptraum: Ein gar nicht mal besonders großer Tanker mit 100.000 Tonnen Heizöl bricht bei schwerer See auseinander. Zwei Drittel davon würden verdunsten oder versacken. Den Rest würde die gegen den Uhrzeigersinn drehende Strömung in der Nordsee binnen drei Tagen ins Wattenmeer treiben. 30.000 Tonnen schwarzer Schlick würden den Nationalpark teeren.

Im Wattenmeer hätte eine Ölkatastrophe viel weiter reichende Folgen als etwa an der felsigen Küste der Bretagne. Der Ölschleim auf den Felsen wird von der Brandung und vom UV-Licht angegriffen, ein Teil verdampft, den Rest verspeisen Bakterien zusammen mit einer Prise Sauerstoff. Im Wattenmeer dagegen sinkt das Öl in den Untergrund, wo es sicher ist vor den Wellen, vor UV-Licht und vor dem Abbau durch Bakterien. Jede Sturmflut würde Teile davon an die Oberfläche spülen, so dass die Organismen, die den ersten Ölteppich überstanden haben, nach und nach vergiftet würden. Organismen, die das Gift nicht killt, verhungern aus Nahrungsmangel. „Auf Dauer würde es aus sein mit dem Ökosystem“, prognostiziert Giere.

Doch für den Professor ist das bloß der Anfang: „Ohne das Wattenmeer kann die flache Nordsee nicht leben“, sagt er. Das Wattenmeer mit seinen vielen Muscheln, Würmern und Mikroorganismen fungiere als Kläranlage der stark belasteten Nordsee, in der viele Schadstoffe abgebaut werden. Als Laichgebiet für Fische und Krebse sei es „die Kinderstube des Meeres“. Von seiner reichlich vorhandenen Biomasse fressen sich die Zugvögel fett, bevor sie nach Afrika aufbrechen. Stirbt das Wattenmeer, könnte auch die Nordsee kollabieren.

Derweil wächst die Wahrscheinlichkeit, dass die Ostsee ein ähnliches Schicksal ereilt. Die Kadet-Rinne zwischen Deutschland und Dänemark wird jährlich von 62.000 Schiffen befahren. Wie Greenpeace im vergangenen Winter ermittelte, sind viele altersschwach. Immer wieder missachteten Kapitäne die Verkehrsregeln und provozierten dadurch Kollisionen. Die Folgen einer Ölkatastrophe in dem Binnenmeer, dessen Wasser sich nur alle paar Jahre mit dem des Ozeans austauscht, sind kaum auszudenken.

Die Politik tut sich schwer damit, dieser Gefahr vorzubeugen. Die EU-Kommission plant zwar härtere Strafen für die Verursacher von Tankerunglücken. Es ist aber noch unklar, ob sie diese durchsetzen kann. Immerhin müssen Schiffe, die das besonders giftige Schweröl transportieren, seit diesem Jahr eine Doppelhülle haben, wenn sie EU-Häfen anlaufen wollen.