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Archiv-Artikel

Deutschland sucht die ärmste Sau

Mit den neuen Sozialgesetzen schrumpft die Sicherung auch der Mittelschicht-Milieus. Der Protest bleibt schwach, denn das gegenseitige Misstrauen ist zu groß

Unverschämt – für Politiker wie Kurt Biedenkopf dienen Sozialkürzungen der Charakterbildung Warum hohe Beiträge für ein System, das nur noch minimale Absicherung bietet?

Wann ist man ganz unten, so richtig? Materiell gesehen dann, wenn man in feuchten Wänden leben muss. Das haben Armutsforscher herausgefunden, die Befragten eine Liste mit den „notwendigen Dingen“ vorlegten. Am häufigsten kreuzten die Leute an: „keine feuchten Wände“. Dann folgte WC, Bad oder Dusche „in der eigenen Wohnung“.

In muffigen Wänden lebt in Deutschland kaum noch einer. Doch die Frage, wann der persönliche Absturz beginnt, beschäftigt die WählerInnen mehr und mehr. Die Hartz-Gesetze III und IV verleihen dieser Frage eine aktuelle Dimension. Denn nun fallen wichtige soziale Absicherungen, auch der Mittelschicht. Und das hat Folgen.

Die Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe zum so genannten Arbeitslosengeld II bedeutet am Ende, dass Langzeitarbeitslose nur noch Stütze in Höhe der Sozialhilfe erhalten, egal wie viel Geld sie vorher verdient haben. In einer Fernsehsendung über enttäusche SPD-Wähler malt eine Ehefrau ihr Schreckensbild an die Wand: „Mein Mann ist Maurer und 54 Jahre alt. Wenn der arbeitslos wird, müssen wir nach einem Jahr das Ersparte aufbrauchen und bekommen anschließend Sozialhilfe. Und das war’s.“

Stütze gekappt, Frühverrentung erschwert, zweiter Arbeitsmarkt kaputt: Es scheint plötzlich, als müsse man in Deutschland Abschied nehmen von der Illusion, dass das Sozialsystem den Status der unteren und höheren Mittelschichten sichert, wenn jemand darin seinen Job verliert. Genau deshalb wurde auch so heftig darum gestritten, Langzeitarbeitslosen wenigstens ein eigenes Vermögen in Höhe von bis zu 26.000 Euro zu belassen, fürs Alter. Denn eine Lebensversicherung war immer der Beweis, dass man ein ganz persönliches „Polster“ hatte. Muss man auch noch diesen Puffer drangeben, kommt die Angst.

Das war mal anders. Fast schon nostalgisch wirken vielleicht bald die alten Bilder des Sozialstaats: Facharbeiter in ihren Endfünfzigern, die in komfortable Frührentenmodelle geschickt wurden. Akademiker, die auf dem ersten Arbeitsmarkt keinen Job fanden und sich in AB-Maßnahmen oder Umschulungen flüchten konnten. Wer auch nur einmal einen hoch dotierten Job oder eine gut bezahlte ABM hatte, konnte mit einer unbegrenzten Arbeitslosenhilfe in Höhe von 800 oder 900 Euro rechnen. Diese Welt wird bald verschwunden sein. Mit dem Arbeitslosengeld II bezahlt der Staat nur noch die Kosten einer „angemessenen Wohnung“, hinzu kommen für Alleinstehende etwa 345 Euro (Osten: 331 Euro) zum Leben. Deutschland hat eine neue Norm für Armut.

Das Sozialsystem funktioniert dabei moralisch paradox: Kürzungen kommen dann, wenn die Beitragseinnahmen der Sozialkassen wegen der Arbeitslosigkeit gering ausfallen und wenn der Jobmarkt eben gerade deswegen keine neuen Stellen bietet. Die Rede von den Segnungen der höheren „Eigenverantwortung“ ist deshalb nichts als Geschwafel. Es ist schon ziemlich unverschämt von manchen Politikern wie zuletzt Kurt Biedenkopf, Sozialkürzungen als ein Mittel zur Charakterbildung der Betroffenen zu verbrämen. Auch die Zeitungskommentatoren, die unablässig mehr „Flexibilität“ von den Arbeitslosen fordern, gehören nicht selten zu jenen Sensibelchen, die selbst wochenlang in ihre Kissen heulen, wenn sie mal bei einer Beförderung übergangen werden.

Doch genau an dieser verrückten Form der Debatte zeigt sich das Besondere der neuen Politik: Die Mittelschicht entsolidarisiert sich praktisch mit sich selbst. Die Maßstäbe, wann jemand den Opferstatus für sich beanspruchen darf und wann nicht, sind immer strittiger geworden – Deutschland sucht die ärmste Sau. Dabei hat sich die Diskussion in den letzten Jahren nach und nach verschoben, und das war das eigentlich Dramatische: Nicht mehr der Leistungsbezug, sondern die Beitragslast wurde zum wichtigsten Sozialthema der Mittelschicht.

Wegen der ungeklärten Opferfrage beteiligten sich auch nur wenige Leute an den Protesten gegen die Hartz-Gesetze. Denn zu viele Erwerbstätige empfinden sich heute selbst schon als Opfer entweder der Sozialpolitik oder des Marktes oder von beidem. Es sind von Kürzungen betroffene Ärzte ebenso wie vom Stellenabbau bedrohte Facharbeiter und von hohen Lohnkosten gebeutelte Kleinunternehmer. In diesen Mittelschicht-Milieus knirscht es vor Misstrauen und Neid – es gibt keinen Platz für Solidarität mit den Verlierern.

Die gewohnten Vorstellungen sind dabei wenig verlässlich. Nach einer vom Wirtschaftsforschungsinstitut DIW veröffentlichten Studie haben in Deutschland im Vergleich zu den USA mehr Söhne von reichen Vätern später ein niedrigeres Einkommen als ihre Erzeuger; die „downward mobility“ zwischen den Generationen ist hierzulande größer. Gleichzeitig zählen die Söhne aus armen Familien in Deutschland seltener als in den USA zu den sozialen Aufsteigern.

Die Abstiegsangst grassiert, Aufstiegshoffnungen zerplatzen – und wer sich unsicher fühlt, geht erst mal in Deckung. Man merkt es beim Konsum, wo alles boomt, was billig ist. In den Fragen, ob markenlose Aldi-Spagetti genauso gut schmecken wie Miracoli und wer Deutschlands neuer RTL-Superstar wird, kann man auch auf Arbeitslosengeld II mitreden. Vielleicht ist es heute ein letzter Trost, zu wissen, wie billig man überleben könnte. Theoretisch.

Denn für die meisten Mittelschicht-Milieus gilt nach wie vor: Sie sind immer noch besser dran als viele andere. Die neue Unterschicht wird von Immigranten, Flüchtlingen ohne Arbeitserlaubnis, älteren Joblosen in wirtschaftsschwachen Regionen gebildet. Die Arbeitslosenquote bei Akademikern hingegen liegt noch nicht mal halb so hoch wie im bundesdeutschen Durchschnitt. Für die Mehrzahl in den Facharbeiter- und Akademikermilieus sind immer noch gut bezahlte Beschäftigungen die Regel – und genau das ist nicht die Lösung, sondern möglicherweise das künftige Problem.

Gut verdienende Beitragszahler könnten sich nämlich die Frage stellen, warum sie denn noch Abgaben entrichten sollen für ein System, das im Falle des Jobverlusts nur noch eine Minimalsicherung bietet. Wenn man schon auf sich allein gestellt ist, dann will man auch wirklich niemand anders mehr mitfinanzieren, schließlich braucht man das Geld für die eigene, private Sicherung. Die Hartz-Gesetze würden damit letztlich die Entsolidarisierung verstärken, die Entfremdung zwischen den Stärkeren und den Schwächeren. In den USA war es dieses Ressentiment der steuerzahlenden weißen Mittelschicht gegenüber den Welfare-Milieus der Schwarzen, das es Bill Clinton in den 90er-Jahren ermöglichte, die Sozialhilfe praktisch abzuschaffen.

So weit ist es hier noch lange nicht. Aber wenn sich die Gesellschaft weiterhin „entmischt“ zwischen jenen abgehängten Leuten auf Mindestsicherung und den Marktfähigen, wird sich die Stimmung wandeln. Vielleicht erscheinen die Hartz-Gesetze im Rückblick als entscheidende Zäsur. BARBARA DRIBBUSCH