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Archiv-Artikel

Enteignete wollen mehr Geld

Ostdeutsche, die enteignet wurden, klagen beim Gerichtshof für Menschenrechte höhere Entschädigungen ein. Bisher gezahlte Summen sind „zweite Enteignung“

STRASSBURG taz ■ Es geht um sehr viel Geld. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) verhandelte gestern über die Klagen ostdeutscher Alteigentümer. Sie fordern vom deutschen Staat die Rückgabe enteigneter Ländereien oder zumindest eine Entschädigung. In Regierungskreisen geht man davon aus, dass eine volle Entschädigung 30 bis 40 Milliarden Euro kosten würde. Die Alteigentümer schätzen den heutigen Wert ihrer Ländereien und Industriebetriebe sogar auf 200 Milliarden Euro.

Zwischen 1945 und 1949 wurden in der sowjetisch besetzten Zone Deutschlands (SBZ) in großem Stil Grundstücke, Betriebe und Ländereien enteignet. Betroffen waren hiervon alle bedeutsamen Industrie- und Mittelstandsbetriebe sowie im Rahmen der „Bodenreform“ rund 7.000 landwirtschaftliche Güter. Außerdem kamen in den staatlichen Bodenfonds auch über 4.000 kleinere Bauernhöfe, deren Eigentümer als „Kriegsverbrecher und Naziaktivisten“ angesehen wurden.

Eine Rückgabe der Grundstücke war im Einigungsvertrag ausgeschlossen worden. Hierauf hatte vor allem die erste frei gewählte DDR-Regierung unter Lothar de Maizière (CDU) gedrungen. Doch auch die von der Bundesregierung versprochene Entschädigung fiel für die Alteigentümer eher mickrig aus. Volle Kompensation gab es nur bei Verlusten bis 5.000 Euro. Werte über 1,5 Millionen Euro wurden nur noch zu 5 Prozent ersetzt. Unternehmen sind von den Entschädigungen, die ab diesem Jahr ausgezahlt werden, ganz ausgeschlossen.

Gegen diese Entschädigungsregelung klagten 68 Einzelpersonen um Freiherr Wolf-Ulrich von Maltzan sowie eine Stiftung und das Unternehmen MAN Ferrostaal. Sie sehen ihr Recht auf Eigentum verletzt, das im ersten Zusatzprotokoll zur Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) festgehalten ist. Bei dem Prozess in Straßburg ging es allerdings nicht um die Enteignungen selbst, da diese vor Inkrafttreten der EMRK stattfanden. Auf dem Prüfstand steht nur das bundesdeutsche Entschädigungs- und Ausgleichsleistungsgesetz (EALG) von 1994.

Nach Ansicht von Jochen Frowein, der die Bundesregierung vertritt, können sich die Kläger nicht auf die Konvention berufen, da sie 1990 kein Eigentum mehr besaßen. Die Kläger bestreiten das, denn völkerrechtswidrige Enteignungen seien „nichtig“. Zumindest hätten sie eine „berechtigte Erwartung“ auf die Rückgabe ihrer Ländereien gehabt.

Sollte deshalb die EMRK anwendbar sein, kommt es darauf an, ob das deutsche Entschädigungsgesetz einen „fairen Ausgleich“ zwischen den Interessen des Staates und denen der Alteigentümer gefunden hat. Frowein verwies auf das Bundesverfassungsgericht, das das Gesetz im Jahr 2000 akzeptiert habe. Zusätzlich zum Lastenausgleich von 4,5 Milliarden Euro in den 50er-Jahren bekämen die Alteigentümer über das EALG immerhin nochmals die gleiche Summe. Klägeranwalt Christopher Lenz bezeichnete das EALG wegen der weit unter dem Verkehrswert liegenden Summen jedoch als „zweite Enteignung“.

Nach Regierungsangaben befinden sich noch eine Million Hektar Agrarland und rund 600.000 Hektar Wald in Staatseigentum. Dieses Land könne, so die Kläger, sofort an die Alteigentümer zurückgegeben werden. Derzeit werden die Flächen jedoch vorrangig den aktuellen ostdeutschen Pächtern – überwiegend LPG-Nachfolgebetriebe – zum Kauf angeboten.

Der Ausgang des Straßburger Verfahrens war gestern noch nicht abzusehen. Das Urteil wird erst für Anfang nächsten Jahres erwartet. CHRISTIAN RATH