: Wozu eigentlich das ganze Theater?
Nach der Lösung der Krise mit der EU rätselt die Türkei über die politischen Motive, die zu dem Streit führten
ISTANBUL taz ■ Als Günter Verheugen gestern verkündet, er sehe keine weiteren Hindernisse für eine positive Empfehlung der EU-Kommission zu Beitrittsverhandlungen mit der Türkei, ging ein kollektives Aufatmen durchs Land. Vorangegangen war eine tagelange Zitterpartie. Der Grund war das Beharren von Ministerpräsident Tayyip Erdogan auf einen Paragrafen im neuen Strafgesetzbuch, mit dem Ehebruch kriminalisiert werden soll. „Was sollte das jetzt eigentlich“, war die meistgestellte Frage, nachdem Erdogan nach einem kurzen Gespräch mit Verheugen alle Forderungen der EU-Kommission akzeptiert hatte. „Warum die ganze Aufregung, warum die Beschädigung des Verhältnisses zur EU, wenn man dann doch sang- und klanglos auf seine Forderungen verzichtet?“
Es gibt zwei Erklärungsvarianten. In der ersten ist Tayyip Erdogan ein ganz besonders cleverer Politiker, in der zweiten ein Amateur. Die erste Variante unterstellt, Erdogan und seine Mannschaft hätten die Krise gezielt inszeniert. Angesichts der breit gestreuten Kritik aus verschiedenen EU-Ländern und den Nachrichten über heftigen Streit innerhalb der Kommission, habe man bewusst einen Punkt hochgespielt, um die gesamte Auseinandersetzung darauf zu fokussieren und dann im letzten Moment eine Lösung herbeizuführen. Dadurch seien alle anderen Punkte überdeckt worden, und die Kommission könne nun ihren Sieg feiern und gleichzeitig grünes Licht geben.
Das hört sich trickreich an, geht aber an der Realität wohl vorbei. Tatsächlich ist Erdogan – und in der Krise ging es hauptsächlich um ihn als Person – ein tiefreligiöser Mensch, der tatsächlich davon überzeugt ist, er könne mit einer Bestrafung von Ehebruch die Familie schützen, und deshalb nicht versteht, warum die EU sich so darüber empört. Letztlich wurde der Druck auf ihn und den Teil seiner Partei, der genauso denkt, aber so groß, dass sie einen Rückzieher machen mussten. Eine weitere Konfrontation mit der EU hätte nicht nur seine Partei, sondern auch die türkische Ökonomie in große Turbulenzen gestürzt.
Die meisten Kommentatoren glauben, dass dies nicht die letzte Krise zwischen EU und Türkei war. „Wenn die Beitrittsverhandlungen wirklich beginnen“, so ein Kolumnist, „wird es noch zu weit heftigeren Missverständnissen und Auseinandersetzungen kommen.“ JÜRGEN GOTTSCHLICH