Warum brennst du, Konsument?

Sie wollten den Alltag revolutionieren, „Außerparlamentarische Opposition“ sein, bürgerliche Beziehungen aufheben. Jede Menge Mythen strickten sich rund um die Kommune I in Berlin: Gruppensex und Probleme mit Abwasch und Orgasmen. Man nannte sie Bürgersöhnchen und Terroristen. Einer der Kommunarden hat jetzt ein Buch über diese Zeit geschrieben. Ein Vorabdruck

VON ULRICH ENZENSBERGER

Am 15. April 1967 demonstrierten in New York City 125.000 Menschen gegen den Vietnamkrieg. Das blieb nicht ohne Auswirkungen auf die alliierte Stadt Westberlin, deren Studentenschaft wie über eine verborgene Nabelschnur mit der Protestbewegung in den USA verbunden war.

Im übrigen Europa waren die Proteste wieder abgeflaut. Die Universitätsbesetzungen in Italien verebbten. Im faschistischen Spanien hatten die Proteste auf die Fabriken übergegriffen, waren dann aber mit bewaffneter Gewalt niedergemacht worden. Die Ruhe war wiederhergestellt. Am 21. April verhinderte in Griechenland ein vom CIA gesteuerter Militärputsch mit dem Ziel, das „Land vor dem Kommunismus zu retten“, den bereits feststehenden Sieg des Linksliberalen Georgios Papandreou. In den ersten vier Wochen der Diktatur wurden mindestens achttausend Menschen umgebracht. Viele wurden in den neu errichteten Konzentrationslagern zu Tode gefoltert. Dass so etwas möglich war, dass auch in Westeuropa täglich im Namen der Freiheit Menschen ermordet wurden, steigerte unsere Unruhe.

Am 18. Mai drangen US- und südvietnamesische Truppen in die entmilitarisierte Zone zwischen Nord- und Südvietnam ein. General Westmoreland verlangte nun 678.000 Soldaten. Gleichzeitig legte, wie man heute weiß, der US-Verteidigungsminister McNamara dem Präsidenten ein erstes geheimes Memorandum vor, in dem es hieß, der Krieg sei nicht zu gewinnen: „Die größte Macht, die bei dem Versuch, ein winziges unterentwickeltes Land wegen eines sehr umstrittenen Ziels in die Kapitulation zu bomben, jede Woche tausend Zivilisten tötet oder schwer verwundet, gibt kein gutes Bild ab.“

Zum Frühstück lasen wir in der Kommune I immer sämtliche in Berlin erscheinenden Tageszeitungen. Fritz und Volker hatten Publizistik studiert. Sie kannten die Kritiker der Massenmanipulation, wie zum Beispiel Emil Dovifat. Oder die Geschichte der „Reptilienfonds“, mit denen Bismarck die Presse dirigierte. Wir wussten von Goebbels’ Genie, von Adenauers Teerunde.

Jeder Politiker liest morgens als Erstes die Zeitung. Die meisten haben natürlich Referenten, die ihnen das Wichtigste herauspicken. Die hatten wir nicht. Aber auch wir wollten auf dem Laufenden sein. Die Massenpresse war uns besonders wichtig. Sie war (und ist) auch für den Kanzler wichtig. Bestimmt las auch Kiesinger morgens als Erstes die Zeitung. Er war ja Propagandafachmann im NS-Außenministerium gewesen. Es ist nicht gleichgültig, welche Meinung gemacht wird.

Vielleicht waren unsere Vorstellungen von der Manipulation der Hirne übertrieben, grotesk waren sie bestimmt nicht. Immerhin konnten wir an uns die Größenordnung der Lügen studieren. Wir hatten in hoher Auflage aus der rotchinesischen Botschaft die Bomben geholt: Der Sprengstoff kam aus Peking. „Bombenanschlag auf US-Vizepräsidenten“ – Bild hatte es in Millionen von Exemplaren verkündet. Und Westberlin war wie ein Labor. Ein geschlossener Markt. Eine Meinungsblase, die nicht schrumpfen und nicht platzen durfte. Das verlangte Professionalität.

Springers neues Verlagshaus am Checkpoint Charlie war eine riesige Investition. Sie musste sich rentieren. Die Texter gaben ihr Bestes. Sie wussten die Klaviatur der Instinkte – Todesangst, Sex, Neid, Grauen usw. – bravourös zu bedienen.

Am 23. Mai 1967 erschien Bild, Ausgabe Berlin, mit der riesigen, von Fotos gesäumten Schlagzeile: „Katastrophe im Kaufhaus. 23 starben in der FEUERFALLE: Brandkatastrophe in der Innenstadt von Brüssel.“ Im Text hieß es:

„In den Mittagsstunden sank ein fünfgeschossiges Kaufhaus in Schutt und Asche. Mehrere anliegende Häuser stehen in Flammen. Bisher wurden 23 Tote geborgen. Über hundert Menschen liegen mit schweren Brandverletzungen in den Krankenhäusern. Viele werden noch vermisst. Unter den Todesopfern befindet sich eine Mutter, die sich in panischer Angst mit ihren drei kleinen Kindern aus dem dritten Stock des brennenden Kaufhauses L’Innovation stürzte. Weiter letzte Seite.“

Auf der letzten Seite dann groß: „Hilfe! Hilfe! Ich verbrenne … Wie eine lebende Fackel liegt ein Mann auf einem Fenstersims des Kaufhauses … Ihm bleibt nur der Sprung nach vorn, der Sprung durchs Fenster in die Tiefe … Als die Wände eines benachbarten Pelzgeschäftes durch die Hitze zu bersten drohten, stürmten Feuerwehrleute in das Gebäude und warfen den auf den Straßen stehenden Menschen große Mengen kostbarer Pelze zu. Der Augenzeuge Raoul Duez aus Gent (Belgien): Als die Flammen aus dem vierten Stockwerk schlugen, sah ich, wie eine Frau auf den Balkon kletterte ... Dann ließ sie sich geschwächt aus 30 Meter Höhe in die Tiefe fallen.“

Und dann kam das Knallbonbon, buchstäblich: „Verkäuferinnen sagten aus: ‚Als es gegen Mittag knallte, machten wir uns nicht viel daraus. Das waren wir seit mehreren Tagen gewöhnt.‘ In dem Warenhaus L’Innovation wurde für amerikanische Produkte geworben. Kommunisten hatten daraufhin aus Protest gegen den Vietnamkrieg in den letzten Tagen Feuerwerkskörper und Kanonenschläge in dem Kaufhaus hochgehen lassen. Der Direktor des Kaufhauses, Willy Bernheim: ‚Vermutlich haben Extremisten den Brand gelegt.‘ Gerüchteweise verlautete, dass am letzten Sonnabend ein Unbekannter gedroht hatte, im Kaufhaus eine Bombe explodieren zu lassen.“

Wir waren sofort überzeugt, dass das eine Falschmeldung war. Wir hielten es für völlig ausgeschlossen, dass Vietnamkriegsgegner das Kaufhaus angezündet hatten. Die europäische Linke war damals pazifistisch bis auf die Knochen. Die kommunistischen Parteien predigten den friedlichen Übergang zum Sozialismus. Der Anarchismus schien der Vorkriegsgeschichte anzugehören. Nichtstaatliche Gewalt war ausschließlich eine Sache der Rechten.

Noch nie war ein Molotowcocktail in der BRD geflogen. Das gab es nicht in Westeuropa. Die Südtiroler Separatisten, die von Italien los wollten, hatten gebombt. Die französische OAS, die die Unabhängigkeit Algeriens vom Mutterland um jeden Preis verhindern wollte, hatte gebombt. Gerade weil die Linke pazifistisch war, löste ja die Identifikation mit dem Vietcong im SDS eine solche Panik aus. Schon die Billigung von Waffengewalt zur Befreiung vom Kolonialismus war anstößig. Deshalb war die Botschaft von Frantz Fanon, dass die „Verdammten dieser Erde“ zur Gewalt greifen müssten, in Europa etwas so Unerhörtes. So wie uns die Westberliner Polizei und die Presse, allen voran die Springer-Presse, als bombenwerfende Attentäter hingestellt hatten – das Ermittlungsverfahren wegen versuchten Sprengstoffverbrechens war keineswegs eingestellt –, so wurden die Brüsseler Vietnamkriegsgegner zu Bombenlegern und Terroristen gestempelt.

Wir dachten nicht im Traum daran, irgend jemanden in Brüssel zu kontaktieren. Wir hatten auch keinerlei Verbindungen nach Brüssel. Wir hielten es für überflüssig, auch nur einen Gedanken an die Möglichkeit zu verschwenden, dass an den Bild-Behauptungen etwas dran sein könnte. Ein Dementi war sinnlos. Eine Matrize war nach etwa tausend Exemplaren abgenutzt. Technisch mit unserer Rotaprint KL1 gegen die Springer-Presse antreten zu wollen, wäre abwegig gewesen. Wir waren uns so sicher, dass sich die Beschuldigungen als haltlos herausstellen würden, dass wir beschlossen, aus der Sache einen Skandal zu machen.

Wir setzten dem Fass die Krone auf und schrieben ein Flugblatt mit dem Tenor: Bild schreibt die Wahrheit! Wir liefern den Beweis: „Neue Demonstrationsformen in Brüssel erstmals erprobt In einem Großhappening stellten Vietnamdemonstranten für einen halben Tag kriegsähnliche Zustände in der Brüsseler Innenstadt her. Diese seit Jahren größte Brandkatastrophe Belgiens hatte ein Vorspiel. Zur Zeit des Brandes fand in dem großen Kaufhaus L’Innova- tion (Zur Erneuerung) gerade eine Ausstellung amerikanischer Waren statt, die deren Absatz heben sollte. Dies nahmen eine Gruppe Antivietnamdemonstranten zum Anlass, ihren Protesten gegen die amerikanische Vietnampolitik Nachdruck zu verleihen.

Ich sprach mit dem Mitglied der prochinesischen Gruppe ‚Aktion für Frieden und Völkerfreundschaft‘ Maurice L. (21): ‚Wir vermochten uns bisher mit unseren Protesten gegen die amerikanische Vietnampolitik nicht durchzusetzen, da die hiesige Presse durch ihre Berichterstattung systematisch den Menschen hier den Eindruck vermittelt, dass ein Krieg dort unten notwendig und zudem gar nicht so schlimm sei. Wir kamen daher auf diese Form eines Happenings, die die Schwierigkeiten, sich die Zustände beispielsweise in Hanoi während eines amerikanischen Bombenangriffs vorzustellen, beheben sollte.‘ Der Verlauf des Happenings spricht für eine sorgfältige Planung: Tags zuvor fanden kleinere Demonstrationen alten Musters vor dem Kaufhaus mit Plakaten und Sprechchören statt und in dem Kaufhaus wurden Knallkörper zwischen den Verkaufsständen gezündet. Das Personal wurde an derartige Geräusche und Zwischenfälle gewöhnt. Die Bedeutung dieser Vorbereitungen zeigte sich dann bei Ausbruch des Feuers, als das Personal zunächst weder auf die Explosionen noch auf Schreie und Alarmklingeln reagierte. Maurice L. zu dem Brand: ‚Sie werden verstehen, dass ich keine weiteren Angaben über die Auslösung des Brandes machen möchte, weil sie auf unsere Spur führen könnten.‘“

Ein zweites, gleichzeitig von uns geschriebenes Flugblatt verfolgte einen anderen Gedankengang. Die USA behaupteten, in Vietnam für die uramerikanischen Werte Freiheit und Demokratie einzutreten. Die Argumente, mit denen sie die Vietnamesen vom US-System zu überzeugen versuchten, wurden immer schlagkräftiger. Inzwischen kam die Zerstörungskraft der in Vietnam eingesetzten B-52-Bomber der taktischer Atomwaffen nahe: „Die achtstrahligen Jets waren in fliegende Bombenplattformen verwandelt worden … Eine Formation von sechs B-52, die ihre Bomben aus 10.000 Meter Höhe ablud, konnte aus einer ‚Schachtel‘ von etwa 1 km Breite und 3 km Länge fast alles ‚herausnehmen‘, wie die Piloten sagten.“

Auf diese Tatsachen aufbauend, stellte unser zweites Flugblatt den Brüsseler Brand als US-amerikanische Werbemaßnahme dar, als Höhepunkt der im Kaufhaus L’Innovation veranstalteten amerikanischen Werbewoche, als verblüffende neue Methode, auch den europäischen Konsumenten vom „American Way of Life“ zu überzeugen:

UNKONVENTIONELL! NEU! UNKONVENTIONELL! NEU UNK Warum brennst du, Konsument? NEU! ATEMBERAUBEND! NEU! ATEMBERAUBEND! NEU! ATEMBER Die Leistungsfähigkeit der amerikanischen Industrie wird bekanntlich nur noch vom Einfallsreichtum der amerikanischen Werbung übertroffen: Coca-Cola und Hiroshima, das deutsche Wirtschaftswunder und der vietnamesische Krieg, die Freie Universität und die Universität von Teheran sind die faszinierenden und erregenden Leistungen und weltweit bekannten Gütezeichen amerikanischen Tatendranges und amerikanischen Erfindergeistes; werben diesseits und jenseits von Mauer, Stacheldraht und Vorhang für freedom und democracy.

Mit einem neuen Gag in der vielseitigen Geschichte amerikanischer Werbemethoden wurde jetzt in Brüssel eine amerikanische Woche eröffnet: ein ungewöhnliches Schauspiel bot sich am Montag den Einwohnern der belgischen Metropole: Ein brennendes Kauf- haus mit brennenden Menschen vermittelte zum ersten Mal in einer europäischen Großstadt jenes knisternde Vietnamgefühl (dabei zu sein und mitzubrennen), das wir in Berlin bislang noch missen müssen.

Skeptiker mögen schon unsere so überaus komplizierte und kompliziert zu lenkende hoch entwickelte Wirtschaft in Gefahr sehen. So sehr wir den Schmerz der Hinterbliebenen in Brüssel mitempfinden: Wir, die wir dem Neuen aufgeschlossen sind, können, so- lange das rechte Maß nicht überschritten wird, dem Kühnen und Unkonventionellen, das, bei aller menschlicher Tragik im Brüsseler Kaufhausbrand steckt, unsere Bewunderung nicht versagen. Auch der Umstand, dass man dieses Feuerwerk Anti-Vietnam-Demonstranten andichten will, vermag uns nicht irrezuführen. Wir kennen diese weltfremden jungen Leute, die immer die Plakate von gestern tragen, und wir wissen, dass sie trotz aller abstrakter Bücherweisheit und romantischer Träumereien noch immer an unserer dynamisch-amerikanischen Wirklichkeit vorbeigegangen sind.“

Das Kaufhaus brannte ja noch, während wir das schrieben, es brannte noch, während Zigtausende Bild lasen. Sicher, unsere Texte waren nicht harmlos, sie trieben den Zynismus auf die Spitze, mit dem die Bild-Zeitung Vietnamkriegsgegner als Brandstifter hinstellte, während es aus US-Bombern Napalm auf die Vietnamesen regnete.

Am 24. Mai erschien Bild mit dem riesigen Aufmacher: „Doch ein Attentat? Das schwarze Todeshaus verschlang 303 Menschen. Flugblatt-Drohung gegen Kaufhaus“. Es folgte der Text: „Immer mehr verstärkt sich der Verdacht, dass die Katastrophe durch ein politisches Attentat ausgelöst wurde. Ein kommunistisches Flugblatt drohte vor dem Feuer mit scharfen Aktionen gegen das Kaufhaus L’Innovation. Dort war eine amerikanische Woche veranstaltet worden.“ Darunter, kleiner: „Nahost-Krise heißer: Nasser sperrt Meerenge“. Auf Seite vier folgte das Interview mit einem Berliner Branddirektor.

Also auch in Westberlin war es jederzeit möglich, dass kommunistische Kriegsgegner das Kaufhaus des Westens ansteckten! Und dann kam die Fortsetzung von Seite 1: „Der Verwaltungsdirektor des L’Innovation, Pierre Bolle (58), hält einen Anschlag auf sein Warenhaus genau so für möglich wie die Polizei. Eine Verkäuferin: ‚Ich hörte plötzlich einen explosionsartigen Donnerschlag. Zuerst dachte ich: das sind wieder die Kommunisten, die zur Demonstration gegen unsere ‚Amerikanische Woche‘ Knallfrösche werfen.‘

Auf dem gefundenen kommunistischen Flugblatt steht in großen Lettern: ‚Die Anti-Imperialisten werden nicht aufhören, bis sie das Land und das Kaufhaus L’Innovation von der Fahne gesäubert haben, die zum Symbol der Aggression und des Verbrechens geworden ist.‘ Mehrere Zeugen sagten übereinstimmend vor der Polizei aus: ‚Wir sahen einen jungen Mann in dem Kaufhaus, der sich nicht wie wir ins Freie stürzte. Der Unbekannte rannte schreiend in die Glut: ‚Ich will für Vietnam sterben.‘“

An demselben Tag, an dem Bild dieses phantastische Horrormärchen verbreitete, stellten wir uns vor die Mensa der FU und verteilten dort unsere Flugblätter. Zu den zwei oben zitierten Texten hatten wir noch zwei weitere Varianten ausgearbeitet. Eine davon war lyrisch, Dagrun und Rainer hatten sie entworfen. Das Blatt war graphisch gestaltet, die Wörter formten einen Rauchwirbel (siehe Abbildung Seite IV). Das Ausrufezeichen am Ende des Textes hatte die Form einer Träne. Die Wendung „Revolution in Rosé“ war der damaligen Reklame für das „Spülmittel neuer Art Pril“ entnommen. Das vierte Flugblatt aber trieb die Provokation auf die Spitze. Die Überschrift lautete: „Wann brennen die Berliner Kaufhäuser?“, und die entscheidenden Sätze lauteten: „Ob leere Fassaden beworfen, Repräsentanten lächerlich gemacht wurden – die Bevölkerung konnte immer nur Stellung nehmen durch die spannenden Presseberichte. Unsere belgischen Freunde haben endlich den Dreh heraus, die Bevölkerung am lustigen Treiben in Vietnam wirklich zu beteiligen: sie zünden ein Kaufhaus an, dreihundert saturierte Bürger beenden ihr aufregendes Leben und Brüssel wird Hanoi. Keiner von uns braucht mehr Tränen über das arme vietnamesische Volk beim Frühstück zu vergießen. Ab heute geht er in die Konfektionsabteilung von KaDeWe, Hertie, Woolworth, Bilka oder Neckermann und zündet sich diskret eine Zigarette in der Ankleidekabine an … Wenn es irgendwo brennt in der nächsten Zeit, wenn irgendwo eine Kaserne in die Luft geht, wenn irgendwo in einem Stadion die Tribüne einstürzt, seid bitte nicht überrascht. Genauso wenig wie beim Überschreiten der Demarkationslinie durch die Amis, der Bombardierung des Stadtzentrums von Hanoi, dem Einmarsch der Marines nach China. Brüssel hat uns die einzige Antwort darauf gegeben: burn, ware-house, burn!“

Am nächsten Tag, den 25. Mai, musste man in der Bild-Zeitung nach dem Brüsseler Brand schon suchen. Aufmacher war: „USA drohen Kairo: Minen weg – oder wir schießen!“ Daneben im Kasten die Frage: „Was würden Sie sagen, wenn die Russen die Ostsee-Zugänge verminen würden?“. Eine Karikatur zeigte Hitler, der von Nasser gefolgt gegen Israel marschierte. Unterschrift: „Marschiert im Geiste mit“.

Und doch fand sich auf der letzten Seite, buchstäblich im letzten Eckchen, noch die winzige Notiz: „Die zur Brand-Ermittlung eingesetzte Sonderkommission teilte mit: ‚Noch immer gibt es keine Bestätigung für ein Attentat. Die Ursache ist unklar.‘ Jeanne Verwort (28), Geschäftsführerin der Bewegung ‚Für Frieden und Freiheit der Völker‘, die vor der Katastrophe Flugblätter mit Drohungen gegen das Kaufhaus verteilt hatte: ‚Wir haben mit dem Brand nichts zu tun. Wir haben Flugblätter verteilt. Aber wir werfen keine Bomben.‘“

Es war genau so, wie wir gedacht hatten. Es war keine politische Brandstiftung gewesen. Es ist in Brüssel auch nie zu irgendeinem Verfahren in diesem Sinne gekommen. Wir hatten ins Schwarze getroffen. Die Brüsseler Toten hatten als Menschenmaterial für Gräuelpropaganda herhalten müssen. Tags darauf, am 26. Mai, erschien in der Springer-Zeitung BZ folgender Kommentar:

Bitte, halten Sie sich fest: Können Sie sich vorstellen, dass bei uns Leute die furchtbare Kaufhaus-Brandkatastrophe in Brüssel mit ihren fast 400 Toten als linksradikale, anti-amerikanische Heldentat feiern? … dass uns Leute darauf vorbereiten, nun bald auch Berliner Kaufhäuser brennen zu sehen? ... Die Texte sind von unüberbietbarer Dreckigkeit. Gespickt mit Obszönitäten, die wahrscheinlich auch in einem Bordell zum Hinauswurf führen würden.

Kommune I – Sie wissen ja Bescheid: Jener Club links von sich selber stehender Jünglinge und Mädchen mit dem gestörten Hormon-Haushalt. Ich muss gestehen, diese halbverrückten und verhinderten Puddingwerfer bisher nicht ganz ernst genommen zu haben. Denn ich sagte mir: Eines Tages gehören sie ja ohnehin zu den hochbezahlten Stützen unserer Gesellschaft … Aber diese Leute weiter mit Nichtachtung strafen, gesundschweigen zu wollen – das ist nicht mehr die richtige Methode: Hier sollte jetzt Fraktur gesprochen werden! … Meine Meinung: Leute, die die Brüsseler Brandkatastrophe mit ihren fast vierhundert Toten als ‚Happening‘ bezeichnen, sind gemeingefährlich! Wer diese Katastrophe, die möglicherweise auf linksradikale Brandstiftung zurückgeht, verherrlicht und zur Nachahmung empfiehlt, gehört hinter Schloss und Riegel!“

Am 27. Mai traf das persische Herrscherpaar in der BRD ein. Bild: „Kaiserpaar heute in Deutschland. Der Schah trägt eine Panzer-Weste!“ Unsere Antwort am 30. Mai: „Berliner, laßt Euch nicht hinters Licht führen!: Schon dort, in Brüssel, ließ sich der Verdacht nicht abweisen, daß dem Kaufhausbrand eine minutiöse Planung vorherging. Seit Wochen werden, wie uns zuverlässig berichtet wurde, in kleinen Zirkeln unter strengster Geheimhaltung Aktionen und vermutlich auch Attentate auf den Schah geplant. Sie sollen sich auf das Hilton, wo der Schah residieren wird, auf die Deutsche Oper, die er besuchen wird, und seine Besichtigungsfahrten konzentrieren. Berliner, zeigt dem Schah, daß ihr ihm, seiner Gemahlin und seinem Land einen herzlichen Empfang bereiten könnt!“

Am 31. Mai teilte uns die Staatsanwaltschaft die Eröffnung eines Ermittlungsverfahrens wegen des Verdachts der Aufforderung zur menschengefährdenden Brandstiftung mit und gab uns Gelegenheit, uns am Freitag, den 2. Juni, dem bearbeitenden Staatsanwalt gegenüber zu dem Verdacht zu äußern. Und das war nicht die einzige Einladung, die wir zum 2. Juni erhielten. Der spätere Bundespräsident Roman Herzog, damals Vorsitzender des Disziplinarausschusses der FU, schrieb mir, schrieb uns: „In Ihrer Disziplinarsache habe ich Termin anberaumt auf Freitag, den 2. Juni 1967. Sie werden hiermit zu diesem Termin geladen.“

„I read the news today, oh, boy, about a lucky man who made the grade“, sangen die Beatles. Wir entschuldigten uns höflich mit dem Hinweis auf anderweitige Verpflichtungen: „Der Termin fällt offenbar zufälligerweise in den Zeitraum des Schah-Besuchs. Hochachtungsvoll.“

ULRICH ENZENSBERGER, Ex-Kommunarde, lebt heute als Autor in Berlin. Alles weitere, so sagt er, solle man in seinem soeben bei Kiepenheuer & Witsch erschienenen Buch nachlesen („Die Jahre der Kommune I, Berlin 1967–1969“, 256 Seiten, 24,90 Euro). Der Text dieser Seiten gibt einen Vorgeschmack. Mit der Kommune I beschäftigte sich der Autor bereits in Zusammenarbeit mit Fritz Teufel, Rainer Langhans u. a. in „Klau mich. Strafprozessordnung der Kommune I“, Berlin 1968. Zuletzt erschien von Enzensberger „Parasiten. Ein Sachbuch“, Frankfurt/Main 2001