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Archiv-Artikel

Die „Engelmacherin“ von St. Pauli

Ein Aufsehen erregender Indizienprozess führte vor 100 Jahren in Hamburg zur Hinrichtung der Katharina Feldmann. Die Betreuerin von Kindern lediger Mütter starb, ohne dass ihr die angeklagten Kindsmorde nachgewiesen werden konnten

„Nach England sicher nicht – eher ins Engelland“, konterte der Staatsanwalt

Von Bernhard Röhl

Am 23. September 1904 verurteilte das Schwurgericht in Hamburg die Ehefrau Katharina Feldmann, geborene Kirchner, wegen vierfachen Mordes zum Tode und zum dauernden Verlust der bürgerlichen Ehrenrechte. Dazu verhängte das Gericht noch zwei Jahre Zuchthaus wegen Verleitung zum Meineid in zwei Fällen.

Die Geschworenen befanden die am 1. Juli 1853 in Hildesheim geborene Angeklagte für schuldig, „im Jahre 1903 vorsätzlich einen Menschen, nämlich die am 26. Februar 1903 geborene Hertha Blunck, getötet zu haben – und zwar indem sie die Tötung mit Überlegung ausgeführt hat“. In der Begründung für die Todesstrafe wurde ihr darüber hinaus die Tötung dreier weiterer Säuglinge zur Last gelegt.

Katharina Feldmann gehörte zu den Frauen, die Kinder von ledigen Müttern aufnahmen, die ungewollt schwanger geworden waren. Eltern warfen ihre „gefallenen“ Töchter hinaus, ebenso die „feinen Herrschaften“ aus den wohlhabenden Stadtteilen ihre ausgenutzten Dienstmädchen. Ehemänner und Söhne der reichen Familien beuteten die jungen Mädchen auch sexuell aus und überließen sie dann ihrem Schicksal. Junge Frauen versuchten die Föten durch „weise Frauen“ abtreiben zu lassen oder brachten sich selbst um. Von den außerehelich geborenen Kindern starben um 1900 von 100 etwa 35 noch vor Vollendung ihres ersten Lebensjahres.

Katharina Feldmann wohnte damals in der Wilhelminenstraße, die von der Reeperbahn zum Paulinenplatz führte. Sie nahm die Säuglinge auf, die jungen Mütter mussten für Kost und Logis von ihrem kargen Lohn aufkommen. Frauen wie Feldmann versprachen ihnen, für diese unerwünschten Kinder reiche Familien im In- oder Ausland zu finden, die für eine „einmalige Abfindung“ die Säuglinge adoptierten. In den Tageszeitungen erschienen täglich entsprechende Angebote. Immer wieder gerieten Frauen, die Kinder lediger Mütter gegen Bezahlung bei sich aufnahmen, in Verdacht, die ihnen Anvertrauten mit Schnaps oder Morphium ruhig zu stellen.

Im Winter 1903 tauchte die Kriminalpolizei in der Wohnung von Mutter Feldmann – wie sie genannt wurde – auf. Eine junge Frau hatte behauptet, ihr Kind sei aus der Feldmannschen Wohnung verschwunden. Die Zeitungen berichteten über die Verhaftung einer Frau auf St. Pauli: Es gebe zwar noch keine Anhaltspunkte für eine gewaltsame Beseitigung, doch habe die Frau über den Verbleib eines Säuglings keine befriedigende Auskunft geben können. Im Untersuchungsgefängnis behauptete Feldmann, sie habe ein Kind an einen Doktor Pranck nach England vermittelt, dieser Mann wurde jedoch nie ermittelt.

Das Gerichtsverfahren gegen Katharina Feldmann wurde eröffnet. Ein penetranter Geruch soll aus ihrer Wohnung gekommen sein; doch die Angaben der Nachbarn widersprachen sich. Der Gestank konnte auch von der St. Pauli-Brauerei oder vom Schlachthof stammen. Eine Nachbarin berichtete, sie habe die Angeklagte eines Abends beim Altonaer Fischmarkt gesehen, als sie ein Paket in der Hand trug. Ungefragt habe ihr die Feldmann erklärt, darin befinde sich eine tote Katze, die sie sehr geliebt habe und deshalb nicht in den Ascheimer werfen, sondern mit einem Stein beschwert der Elbe übergeben wollte. Im Fluss wurde jedoch keine Kinderleiche entdeckt.

Die Anklage ging von vier verschwundenen Säuglingen aus, deren Namen bekannt seien. Das Schwurgericht ordnete einen Lokaltermin in der Wohnung der Angeklagten an. Viele Neugierige versammelten sich in der Straße, um das „Monster“ zu sehen und zu beschimpfen. Kriminalbeamte flanierten durch die Straße. In der Davidwache warteten „Konstabler“ auf den Befehl, bei Unruhen energisch einzuschreiten. Zwei Polizeibeamte in Zivil fuhren mit der Angeklagten in einer Droschke auf Umwegen zum Wohnhaus. Nur wenige Leute bemerkten ihre Ankunft. Das Gebäude verwandelte sich in einen Gerichtssaal.

Der Vorsitzende Richter erklärte, die Pflegemutter habe sich über den Verbleib der verschwundenen Kinder andauernd widersprochen. „Ich mache darauf aufmerksam, dass man Frau Feldmann nicht hat nachweisen können, dass die Kinder nicht nach Frankreich, England oder Amerika geschafft worden sind“, betonte ihr Verteidiger. „Nach England sicher nicht – eher ins Engelland“, konterte der Staatsanwalt. In Zeitungsberichten und in der öffentlichen Meinung hatte die Angeklagte den Beinamen „Engelmacherin von St. Pauli“ erhalten. Der Vorsitzende musste zugeben, dass sich die Anklage nur auf dürftige Indizien stützte. Knochenreste im Küchenherd stammten laut Feldmann von einem Kaninchen und toten jungen Katzen. Die Angeklagte schwieg entweder oder beteuerte, sie habe keine Kinder verbrannt.

„Frauen wie diese Frau Feldmann sind, solange die ledige Mutter mit dem Fluch der Schande beladen ist, notwendig. Sie sind da, einfach deshalb, weil sie da sein müssen. Unsere heuchlerische Gesellschaftsordnung verlangt sie, und ungezählte Kinder zahlen mit ihrem armen Leben dafür. Dazu bedarf es keiner Verbrechen, wie sie der Frau Feldmann hier vorgeworfen werden und die wir ihr kaum jemals werden beweisen können; dazu genügt allein die Unliebe, mit der die Menschen zu kargen pflegen“, klagte der Verteidiger während des Lokaltermins an. Der Jurist reichte gegen das Todesurteil des Schwurgerichts ein Gnadengesuch ein und bat, es in eine lebenslängliche Zuchthausstrafe umzuwandeln.

Seit dem 24. September 1864 erschien das Hamburger Fremden-Blatt, das aus anderen Blättern hervor gegangen war. Diese Zeitung berichtete rückblickend auch über den Sensationsprozess gegen die „Engelmacherin“. Das Blatt schilderte ausführlich die Hinrichtung von Katharina Feldmann, die – ohne ein Wort zu sagen – die Ablehnung des Gnadengesuchs anhörte. Die Nacht bis zum Morgen der Hinrichtung um acht Uhr verbrachte die Verurteilte sitzend auf einem Stuhl. Ein Priester mit Kruzifix und ein Oberinspektor begleiteten sie. Die Verurteilte starb durch die Guillotine. Kopf und Rumpf wurden in einen Sarg gelegt und in das Hafenkrankenhaus transportiert.

Der Hamburger Schriftsteller Otto Erich Kiesel veröffentlichte im Jahre 1949 seinen Roman „Die Ungerufenen – Die Engelmacherin von St. Pauli“, in dem er die Geschichte der Katharina Feldmann schilderte. Der Autor zitiert darin den Vorsitzenden Richter wie folgt: „Glauben Sie nicht, Ihrem Schicksal zu entgehen, Frau Feldmann. Wenn das Gericht irrt, so wird Gott uns diesen Irrtum zugute halten, weil wir die Wahrheit zu finden gewollt haben. Sie aber, Frau Feldmann, Sie werden diesen Irrtum furchtbar büßen, weil Sie verstockt und verhärtet uns die Wahrheit verhehlt haben.“