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Archiv-Artikel

Vom Leben überfordert

Wie aus der erwarteten glücklichen Zeit eine der härtesten Prüfungen werden kann: Schreikinder bringen nicht nur sich selbst, sondern auch die Eltern an den Rand des Zusammenbruchs. Mediziner nennen es schlicht: Anpassungsprobleme

von peter brandhorst

Grade eben ist der knapp Vierjährige von seiner Mutter zu Bett gebracht worden und hat vorher nochmal ausgiebig mit den Gästen geschäkert. Sohnemann strahlt, Mutter strahlt, alles ist gut. Heute jedenfalls. Während der Schwangerschaft, erzählt Kirsten, die Mutter, war die Vorfreude riesig. Die schönste Zeit des Lebens werde bald beginnen, wenn ihr erstes Kind erst einmal da ist, dachte die damals 39-Jährige. „Und dann habe ich Leo geboren, und vom ersten Augenblick an hat er bloß geschrien und geschlafen und geschrien, drei Monate lang.“

Aus der erhofften schönen wurde „die schwerste Zeit meines Lebens. Ich musste über Grenzen hinauswachsen, von denen ich vorher nichts ahnte.“

Ganze Tage und halbe Nächte hat sie den Sohn „getragen und getragen“, erzählt die Mutter. „Am Schreien hat das nichts geändert“, wohl aber an ihrer eigenen Verfassung. Emotional und körperlich sei sie im Laufe der Wochen immer schwächer geworden, sagt sie. Und Ingo, der Vater, spricht von Tagen voller Verzweiflung, „wir hatten ja zunächst keine Ahnung, warum er das tat.“ Heute wissen die Eltern, „seine Bedingungen wurden einfach andere außerhalb des Bauches. Das hat er dann gleich in die Welt geschrien.“

Anpassungsschwierigkeiten an das Leben haben ein Drittel aller Neugeborenen. Bei zehn Prozent sind sie so deutlich, dass Kinderärzte von so genannten Schreikindern sprechen. Die Hälfte von ihnen brüllt in den ersten Wochen und Monaten täglich über viele Stunden. Als Schreikinder gelten Säuglinge, die bis zu einem Alter von drei Monaten an mehr als drei Tagen in der Woche jeweils länger als drei Stunden schreien. „Alle paar Tage nur ein paar Stunden?“, sagt Mutter Kirsten jetzt und lächelt dabei, als steckten ihre Hände gerade in einem Kessel siedenden Öls, „da wäre ich richtig froh gewesen. Einmal hat Leo gar sieben Stunden am Stück geschrien.

Schreikinder hat es schon immer gegeben, erst in letzter Zeit dringt das Problem auch in das Bewusstsein einer breiteren Öffentlichkeit. Für das Schreien gibt es keine medizinische Erklärung. Kinderarzt Manfred Lübke spricht von „ganz normalen Anpassungsschwierigkeiten nach der Geburt. Die haben alle, aber nicht alle haben auch die Kompetenz, das für sich zu regeln. Und die schreien.“ Und schwitzen und zittern dabei, oft mit aufgerissenen Augen und rotem Kopf.

Die auf sie einströmenden Reize des Lebens – Licht und Lärm, Nahrung oder Sprache – werden von Säuglingen sofort zu hundert Prozent wahrgenommen, so Lübke, „aber die Festplatte, die die Kleinen mit zur Welt bringen, ist fast leer. Ordner müssen erst angelegt werden, die langsam gefüllt werden müssen.“ Manche Babys zeigen sich damit zunächst überfordert. Bis heute ist unklar, warum die Anpassung bei einigen rascher, anderen langsamer gelingt.

Nicht die Mütter sind schuld, wenn Säuglinge pausenlos schreien. Und doch stürzt es die Eltern oft in tiefe Krisen. So wie Kirsten und Ingo, die glaubten, ganz freudig und aufgeregt durch das Leben flattern zu können und sich abrupt niedergeschlagen wiederfanden irgendwo down to earth. Je länger der Sohn schrie, um so stärker wuchsen bei Kirsten, der ausgebildeten Erzieherin und Diplom-Pädagogin, die Zweifel, „ob ich eine gute Mutter sein kann.“ Ihr Kinderarzt tippte auf Blähungen im Bauch des Kleinen, dazu die Reaktionen anderer Eltern, „vielleicht ist ja auch bei euch Erwachsenen etwas nicht in Ordnung?“ Er habe sich, sagt der Vater, manchmal gefragt: „Machen wir nicht doch etwas falsch?“ Geholfen hat den Eltern schließlich „die Beschäftigung mit der Theorie“.

Manche Eltern schaffen es nicht, ihr Gefühl der Hilflosigkeit zu überwinden. „Und dann beginnt man, sich gegenseitig Schuld zuzuweisen“, sagt Manfred Lübke mit seiner knapp zwanzigjährigen Erfahrung als Kinderarzt. Die Folge: Gestörte Eltern-Beziehungen führen auch zu einer gestörten Beziehung der Eltern zum Kind. Lübke gehört zu den Initiatoren einer Schreiambulanz, die seit Anfang September im Kieler Städtischen Krankenhaus arbeitet. Eltern können dort kostenlos lernen, dass Schreikinder einen festen Rhythmus benötigen, zum Beispiel regelmäßig wiederkehrende Essens- oder Ruhezeiten. Und mit psychologischer Hilfe soll auch ihr eigenes Selbstbewusstsein gestärkt werden – ich kann das, ich schaff’ das, mein schreiendes Kind zu behüten.

So genannte Schreiambulanzen arbeiten vereinzelt bereits an anderen Orten, so in Bremen, Lübeck, Schleswig und Bargteheide und bis vor kurzem auch in Hamburg. Das Besondere der Kieler Einrichtung ist, dass im Rahmen eines zweijährigen Modellversuchs erstmals Gesundheitswesen und Kinderschutz eine Kooperation eingehen. Eine solche Verzahnung sei nötig, so Kinderarzt Lübke, weil die häufig zu beobachtenden Bindungsstörungen zwischen Eltern und schreienden Kindern das Risiko von Kindesmisshandlungen und -vernachlässigungen deutlich erhöhten. „Manche Eltern“, so Lübke, „wissen sich in ihrer Verzweiflung nicht anders zu helfen, als ihren Säugling durch Schütteln oder noch Schlimmeres zur Ruhe zu bringen.“

Wie der Lauf in einem Hamsterrad sei mancher Tag für sie gewesen, sagt jetzt die Mutter Kirsten. Wohin sie ihre Energien auch lenkte, stets blieb das Gefühl, sich hilflos im Kreis zu drehen. „Unser Umgehen mussten wir uns schwer erarbeiten. Die Beziehung zu Leo hat das jedoch positiv beeinflusst, dieses Kind konnte man einfach nicht übersehen.“ Und der Vater sagt noch, damals, mit den blank liegenden Nerven, „da bekam ich manchmal eine schwache Ahnung, warum Erwachsene irgendwo Kinder totschütteln. Das macht dann zusätzlich fertig.“