: Normalität, erfrischend
Seit 1996 organisiert die Hamburger Fotografin Marily Stroux Fotoworkshops mit Kindern aus Kriegsgebieten. Jetzt ist daraus ein Buch entstanden: ungewöhnliche Blicke auf die Stadt und ihre Bewohner – dauerhafte wie zeitweilige
von Günter Zint*
Dass man „den Wald vor lauter Bäumen nicht“ sieht, ließe sich heute aktualisieren: „Man sieht das Leben vor lauter Bildern nicht“. In den Städten werden wir fast erschlagen von Bildern, Werbeplakaten, Piktogrammen und flimmernden Großbildschirmen in Bahnhöfen.
Neuerscheinungen auf dem Fotobuchmarkt beschäftigen sich hauptsächlich mit Hochglanz-Glamour, Lifestyle oder grausigem Kriegsgeschehen – es ist lange her, dass ich es mit einem Bildband mehr als zehn Minuten ausgehalten habe.
Das neue Buch von Marily Stroux, Bei mir ist alles normal, hat mich in den letzten Tagen doch einige Stunden beschäftigt. Die Fotos sind erfrischend „normal“ und dadurch berührend. Die Fotografin Stroux beschreibt ihre Workshops mit Flüchtlingskindern aus Kriegs- und Krisengebieten. Darin können diese Kinder sich selbst ausdrücken, ihre Wünsche, Hoffnungen, Ängste und Erlebnisse aufschreiben und auf Tafeln mitteilen.
Der Buchtitel ist so ein Tafeltext von Mirjana, einem Roma-Mädchen aus Ex-Jugoslawien. Zu Beginn des Workshops sollten die Kinder auch ihre Religion auf die Tafel schreiben – „Ich habe keine Religion“, schrieb Mirjana, „bei mir ist alles normal.“
So normal und ehrlich sind alle Tafeltexte. Es ist wohltuend, Stroux‘ Erlebnisse mit den Kindern, die teilweise auf den Flüchtlingsschiffen im Hamburger Hafen leben, zu verfolgen, ohne dabei mit sozialpädagogischen Einschätzungen oder psychologischen Weisheiten gelangweilt zu werden.
Die Kinder erzählen auch mit dem Fotoapparat, was ihnen an Hamburg gefällt und was nicht. Die Stadt wird sichtbar, und ins Album eingeklebte Fotos halten auch nach einer eventuellen Rückkehr ins Heimatland Erinnerungen wach. Gleichermaßen werden die Kinder durch vorangegangene Ausstellungen und das Buch für Hamburger sichtbar. Wen kümmert es etwa in hektischen Einkaufszentren, wie es den tschetschenischen Kindern auf dem Flüchtlingsschiff „Bibby Challenge“ geht – es sei denn, er wird mit deren Fotos konfrontiert.
Der Betrachter kann dann mit den Kindern darüber staunen, dass in den Autos fast immer nur ein Mensch sitzt. Dass so viel kostbares Wasser sinnlos durch die Toiletten rauscht. Oder auch, warum die Menschen in Hamburg es immer eilig haben.
Marily Stroux ist mit den Kindern und einem mobilen Fotostudio durch die Stadt gezogen. Sie hat gezeigt, wie man mit einem Stück Papier und einer billigen Kamera tolle Fotos machen kann. Auch ihre Tochter Salinia hat sich für das Projekt begeistert und die gleichen Aktionen in Thessaloniki, wo sie studiert, mit afghanischen Kindern und Frauen gemacht. Auch dies ist Bestandteil des Buches. Mehr will ich nicht verraten.
So viel muss ich aber noch anmerken: Die Gestaltung des Buches ist ungewöhnlich, aber ganz toll gelungen. Falk Zirkel hat sich interessante Freiheiten genommen. Vor derartigem Aufwand schrecken Verleger von Fotobüchern normalerweise zurück. Ein Zuschuss des Kulturwerkes der VG Bild-Kunst hat aber das verlegerische Risiko minimiert und der Frankfurter Verlag Brandes & Apsel hatte den Mut, dieses Projekt zu realisieren.
*(Der Autor, freier Fotograf und Schriftsteller, lebt nach langen Jahren in Hamburg inzwischen in Fahrendorf)
Marily Stroux, „Bei mir ist alles normal. Fotoworkshops und Tafelfotos mit Flüchtlingskindern“, Verlag Brandes & Apsel, Frankfurt/M. 2004, 130 Seiten, 14 Euro