Lachen, Tränen, Heiterkeit

Die Regierung übersteht den Abstimmungsmarathon im Bundestag nicht ganz unbeschadet. Rot-Grün kann nicht mal abstimmen, ätzt Friedrich Merz

Eine Zuschauerin verlässt den Saal: Die Reden verunsichern sie zu sehr

aus Berlin JENS KÖNIG

Roland Koch war schon immer früh dran. Mit 14 Jahren eine Ortsgruppe der Jungen Union gegründet, mit 32 Jahren jüngster Fraktionschef, mit 41 jüngster Ministerpräsident, und an diesem Freitagmorgen hat er schon vor 9 Uhr in der Süddeutschen Zeitung das große Seite-3-Porträt über Gerhard Schröder gelesen. Als Koch gegen halb zehn im Reichstag ans Rednerpult tritt, um für die Union die Debatte über die Arbeitsmarktreformen zu eröffnen, da erzählt er ohne Umschweife von der rührseligen Zeitungsgeschichte über den Kanzler, in der beschrieben wird, warum Schröder Sönke Wortmanns Film „Das Wunder von Bern“ so liebt und dass er bei der Vorführung der Geschichte über traurige Väter und resolute Mütter im Nachkriegsdeutschland sogar ein paar Tränen vergossen haben soll. „Herr Bundeskanzler“, ruft der Streber Koch plötzlich laut in den Plenarsaal, „Sie sollten weinen, wenn Sie sich Ihre Politik angucken.“

Das war ein Auftakt ganz nach Maß – allerdings für einen Tag, der nicht stattfand, für den Schicksalstag – den wievielten eigentlich? – des Herrn Bundeskanzlers und seiner Regierung. Dieser sollte an diesem Freitag ja eigentlich seinen unnachahmlichen Lauf nehmen. Noch vor zwei Wochen sah es ganz danach aus: Rot-Grün kriegt bei der Abstimmung über die Gesetze zur Reform des Arbeitsmarktes keine eigene Mehrheit zustande, Schröder tritt zurück, Merkel streitet mit Stoiber um die Kanzlerschaft. Aber Schröder hat mitten in der Krise einfach das Drehbuch umgeschrieben: Die Kritiker in den eigenen Reihen wurden mit ein paar Bonbons ruhig gestellt, so dass die rot-grüne Mehrheit schon seit Anfang dieser Woche wie ein Fels in der politischen Landschaft steht.

Und so ist dieser 17. Oktober plötzlich ein ganz anderer Tag geworden. Nicht der politische Selbstmord der rot-grünen Regierung wird heute gegeben, sondern eine der vielen Aufführungen aus der Berliner Reformwerkstatt. Geschäftig, routiniert, ein wenig zum Heulen. Aber viel zu lachen sollte es auch geben.

Gleich acht wichtige Reformgesetze stehen auf der Tagesordnung, sechsmal müssen die Abgeordneten namentlich abstimmen, was unterstreichen soll, dass es doch schon auf jeden Einzelnen von ihnen ankommt. Natürlich geht bei diesem Abstimmungsmarathon alles glatt. Rot-Grün verabschiedet die Reformen mit eigener Mehrheit, nur bei den beiden Hartz-Gesetzen enthält sich der Grüne Werner Schulz der Stimme.

Vielleicht liegt es an diesem erwartbaren Ausgang, vielleicht aber auch daran, dass die meisten dieser Reformen dramatisch in das Leben von Millionen Menschen in diesem Land eingreifen werden – jedenfalls fällt der Charakter der meisten Debatten an diesem Tag irgendwie unangenehm auf. Viele Abgeordnete reden über „die Menschen“, über „diejenigen, um die es hier heute geht“, wie FDP-Chef Guido Westerwelle sagt. Dabei bedienen sich die meisten einer Sprache, die „die Menschen“ einfach nicht verstehen. Wirtschaftsminister Wolfgang Clement redet vom „Gelenkigmachen des Kündigungsschutzes“, Thea Dückert von den Grünen spricht von „pauschalisierten Leistungen“ und „Mehrbedarfszuschüssen“, der Arbeitsmarktexperte Hans-Joachim Laumann doziert über BfA und PSA.

Dabei ist wohl keinem von ihnen bewusst, dass diejenigen, um deren Schicksal hier so fachchinesich verhandelt wird, direkt über den Abgeordneten sitzen, auf den Besuchertribünen. Zu ihnen gehört Erika Grottmann aus Büttelborn in Hessen. Nachdem sie der Debatte eine Stunde lang zugehört hat, verlässt sie etwas irritiert den Reichstag. „Die Politiker reden nicht so, als ginge es hier um das Schicksal von Millionen von arbeitslosen Menschen“, sagte sie. Erika Grottmann ist 56 Jahre alt und Bibliothekarin. Sie hat nur einen großen Wunsch: dass sie es bis zur Rente schafft, ohne ihre Arbeit zu verlieren. „Dieses Politikergerede hier verunsichert mich nur noch mehr.“ Da passt Roland Kochs Satz über Schröders Politik, die zum Heulen sei, dann doch wieder ganz gut.

Zum Glück bekommt Erika Grottmann nicht mit, in welch aufgeräumter Stimmung die Abgeordneten die Verabschiedung der Hartz-Gesetze III und IV hinter sich bringen. Sie hätte den Kontrast zum Ernst der Lage ganz bestimmt nicht verstanden. Die beiden Abstimmungen finden kurz nach elf Uhr statt. In der Mitte des Plenarsaal drängeln sich 600 Abgeordnete und halten ihre Stimmkarten bereit. Der hoch aufgeschossene Sozialdemokrat Reinhard Robbe begrüßt seine Kollegin Elke Leonhard mit Handkuss. Der Kanzler scherzt mit Michel Glos von der CSU. Nur Werner Schulz streift einsam umher. Der Akt selbst ist kurz und schmerzlos. „Das Ergebnis verkünden wir später“, sagt der CDU-Mann Norbert Lammert vom Präsidium herab.

Der Auftakt ist ganz nach Maß für den Schicksalstag – der nicht stattfindet

Aber später wird auf den Fluren des Reichstags nur die Nachricht verbreitet, dass die Urnen der beiden Wahlgänge gleichzeitig ausgeschüttet worden seien, was zu einer „wundersamen Vermehrung der Zahl der Abgeordneten“ geführt habe, wie Lammert drinnen im Saal trocken mitteilt. Die beiden Abstimmungen zu Hartz III und IV müssen wiederholt werden. Sie werden für 14 Uhr angesetzt.

„Rot-Grün kann nicht mal richtig abstimmen“, ätzt Friedrich Merz im Plenarsaal. Draußen auf den Fluren vertreiben sich einige Grüne mit Witzen ihre Zeit. „Ich hatte nicht angekündigt, zweimal mit Ja zu stimmen“, sagt Christian Ströbele. Als seine Fraktionschefin Krista Sager davon erfährt, stockt ihr eine Sekunde lang der Atem. Dann muss sie lachen. „Dass erzählen Sie mir nur, damit ich rot werde“, sagt sie zu einem Journalisten. Plötzlich eilt der Kanzler im Sturmschitt und mit Frau Doris im Arm ins Bundestagsrestaurant. Jürgen Trittin steht auf und fällt Doris um den Hals. Werner Schulz sieht das von draußen und sagt: „Jetzt stimme ich doch mit Nein.“

Ja, lachen können sie noch im Regierungslager. Um 14 Uhr wird dann keine Urne mehr vertauscht. Die Mehrheit steht.