: „Es gibt in Deutschland keine Mafia“, sagt Jörg Kinzig
Mit dem Kampf gegen die „organisierte Kriminalität“ begründet die Polizei problematische Ermittlungsmethoden
taz: Herr Kinzig, Sie haben die bisher gründlichste Untersuchung zur organisierten Kriminalität in Deutschland vorgelegt. Gibt es denn eine Mafia in Deutschland?
Jörg Kinzig: Die Mafia ist eine historisch gewachsene Erscheinung in Italien. Etwas Vergleichbares habe ich in den von mir untersuchten mehr als 50 Fällen von organisierter Kriminalität bei uns nicht gefunden.
Die Vorstellung von streng abgeschotteten, hierarchisch aufgebauten Verbrechersyndikaten ist also falsch?
In Deutschland habe ich kaum Täterverbindungen entdecken können, die man aufgrund ihrer Mitgliederzahl sowie Umfang und Dauer ihrer Tätigkeit als eigenständige kriminelle Organisationen ansehen könnte.
Was ist dann das Besondere an organisierter Kriminalität?
Ich würde eher von Kriminalität sprechen, die für die Polizei schwer zu ermitteln ist. Drei Schwierigkeiten stehen dabei im Vordergrund. Erstens: ein hoher Ausländeranteil, der schon wegen fremder Sprache, fremder Kultur enorme Ermittlungsprobleme mit sich bringt. Zweitens: die internationale Abwicklung krimineller Geschäfte – denn die Zusammenarbeit von Polizei und Justiz über Grenzen hinweg ist immer noch unzureichend. Drittens: Bei Delikten wie Drogen- und Menschenhandel gibt es meist keine anzeigebereiten Opfer, auf deren Aussagen die Polizei aufbauen kann.
Was hat die Polizei davon, wenn sie bestimmte Taten als organisierte Kriminalität bezeichnet?
Für die Bekämpfung der organisierten Kriminalität wurden im Laufe der 90er-Jahre zusätzliche Ressourcen zur Verfügung gestellt. Dabei hat sich auch eine spezielle Art des Ermittlungsverfahrens herausgebildet. Da es hier zumeist keine anzeigebereiten Opfer gibt, muss die Polizei von sich aus ermitteln und in die kriminelle Szene eindringen. Nehmen wir den Rauschgifthandel: Da die letzte Lieferung häufig schon verkauft ist, dokumentiert die Polizei eine neue, welche dann bestraft wird.
Wo beginnt die Polizei mit der Suche nach Straftaten?
Oft beruhen solche Initiativermittlungen auf Tipps von V-Leuten. Das sind Leute aus dem kriminellen Milieu, die mit der Polizei zusammenarbeiten. Oder es werden Erkenntnisse aus anderen Verfahren weiterverfolgt.
Und der Staat beobachtet dann, wie Straftaten geplant und verübt werden …
Ja. Mitunter werden die Täter vom Staat sogar erst zu einer neuen Tat provoziert, etwa wenn ein V-Mann einem Dealer die Beschaffung von Drogen vorschlägt, die dann ein verdeckter Ermittler aufkauft.
Werden bei solchen Scheingeschäften auch unbescholtene Bürger zu kriminellen Handlungen provoziert?
So etwas konnte ich in meiner Untersuchung nicht feststellen. Weil aber die V-Leute nach der Menge des sichergestellten Rauschgifts bezahlt werden, haben sie ein gewisses Interesse daran, die Dealer zu möglichst großen Geschäften anzustiften. So sind Fälle bekannt, in denen ein Drogenhändler auf Drängen eines vom Staat bezahlten Spitzels in Dimensionen vorstieß, die ihm bisher fremd waren.
Wie reagieren die Gerichte auf diese Verführung zur Tat?
Wenn sie belegbar ist, erhält der provozierte Angeklagte eine Strafmilderung. Die Polizei hat dieses Problem inzwischen erkannt und versucht, ihre V-Leute besser zu kontrollieren. Scheingeschäfte gibt es aber weiterhin.
Kann die Glaubwürdigkeit der V-Leute und verdeckten Ermittler im Strafprozess überprüft werden?
V-Leute und verdeckte Ermittler müssen so gut wie nie vor Gericht erscheinen. Sie werden vom jeweiligen Innenministerium „gesperrt“, damit sie auch weiterhin im Milieu eingesetzt werden können. Vor Gericht wird in der Regel stattdessen ein Polizist gehört, der mit den gesperrten Personen zusammenarbeitet. Die Gerichte gehen mit solchen nur indirekten Aussagen zu Recht vorsichtig um.
Man spricht zurzeit nicht mehr so viel von organisierter Kriminalität. Geht sie zurück?
Für das letzte Jahr hat das Bundeskriminalamt weniger Ermittlungen gemeldet als noch im Jahr 2000. Es könnte sich dabei aber auch nur um einen scheinbaren Rückgang handeln – etwa wenn die Polizei ihre Ressourcen einfach nur auf andere Gebiete wie den internationalen Terrorismus verlagert hat.
Halten Sie den Kampf gegen die organisierte Kriminalität für korrekturbedürftig?
Gegen schwer ermittelbare Delikte muss die Polizei aktiv vorgehen. Allerdings sollte dieser sensible Bereich in einem Rechtsstaat immer strengen Kontrollen unterliegen. Hier kann nachgebessert werden.
INTERVIEW: CHRISTIAN RATH