Tiger im Nebel

Dariusz Michalczewski verliert seinen 49. Kampf und verpasst somit die Rekord-Einstellung des legendären Rocky Marciano. Dies dürfte gleichzeitig das Karriereende eingeläutet haben

aus Hamburg OKE GÖTTLICH

Wenn sich der Nebel lichtet, wird Dariusz Michalczewski mit verheilten Augenpartien scharf auf sein Wirken im Ring blicken können. Und bei maximaler Klarsicht wird er erkennen, dass dieser Nebel in den vergangenen Kämpfen sein ständiger Begleiter gewesen ist. Ein Kompagnon, der sich schwer unter einen Weltmeisterschaftsgürtel schnallen lässt, wenn er seine Spur in Form von blutenden Risswunden im Gesicht hinterlässt. Deshalb arbeitete Michalczewski vor seinem zur Rekordjagd hochgejazzten Kampf gegen den Mexikaner Julio Gonzalez verstärkt an seiner Deckung. Doch bevor er – wie zuvor der legendäre Rocky Marciano – 49 Kämpfe in Folge gewinnen und – wie von seinem Promoter Klaus-Peter Kohl erhofft – in einem Atemzug mit den größten Boxern aller Zeiten genannt werden konnte, war der Nebel wieder da.

Nach einem unabsichtlichen Kopfstoß seines Gegners Gonzalez in der zweiten Runde legte sich erneut Dunst auf Michalczewskis linkes Auge. Blut quoll, und die „Distanz stimmte nicht mehr“, wie Tiger-Trainer Fritz Sdunek später befand. Es waren diese ersten Runden, die Michalczewski später um den Punktsieg brachten. In den letzten Runden versuchte er zwar Wirkungstreffer zu landen, doch fanden seine Schläge nur selten das Ziel. Der nach Punkten mit 2:1 für den neuen Weltmeister Julio Gonzalez gewertete Kampf zeigte dabei nur, wie das Umfeld von Michalczewski zunehmend die Nähe zur Realität verloren hat.

Michalczewski als einer der größten Boxer aller Zeiten zu verkaufen, ist eine Sache, die bereits durch dessen zahlreiche Fights, die umstritten oder gegen schwächere Boxer gewonnen wurden, ad absurdum geführt und von Kabarettist Werner Schneyder („Ich kann diesem Jubelchor um Dariusz Michalczewski nicht einschränkungslos einstimmen“) auf den Punkt gebracht wurde. Entgehen wollte er dem dadurch entstandenen Druck, in dem er versuchte, sich „selbst zu übertreffen“ – und dafür an seiner Deckung zu arbeiten begann. Je mehr der Tiger an seiner Deckung trainierte, um seine Augen zu schützen, um so mehr verlor sein Stil im Ring allerdings an Einzigartigkeit. Als Geschäftsmann beteiligt er sich dafür an einer Sondermülldeponie in Danzig und half der polnischen Mineralölfirma Orlen bei deren Einführung im norddeutschen Tankstellenmarkt. Geschäftlich preschte der ehemalige Straßenboxer also weiter nach vorn; im Ring versuchte er sich verstärkt um seine Defensive zu kümmern. Der Nebel kam trotzdem.

Von einem ungerechten Kampfausgang wollte anschließend kein Beteiligter etwas wissen. „Julio hat mehr Treffer gesetzt und ist korrekter Sieger“, befand Trainer Fritz Sdunek. Denn je mehr der Nebel vor dem Gesicht ihres Schützlings aufzog, umso besser bekamen die Macher Fritz Sdunek und Klaus Peter Kohl Durchblick. Sdunek griff bereits vorzeitig abbruchbereit zum Handtuch, während Kohl zu Beginn der elften Runde noch mal in die Ringecke von Michalczewski ging, um energisch mit der Faust auf den Boden zu schlagen und dem Tiger damit andeutete, nur noch mit einem K.o. gewinnen zu können. „Ein Abbruch wäre vielleicht besser gewesen, wegen dem Cut“, sagte Sdunek danach. Es war ein leiser, aber doch in die Zukunft gerichteter Ratschlag an den Tiger.

Die Frage, ob er noch mal in den Ring zurückkehren wird, ist bislang unbeantwortet. Wenn auch die Gesten nach Ende des Kampfes für den Abschied sprechen: Ein sanft am Rücken des Tigers streichelnder Promoter Kohl und die in einen wildbachartigen Heulkrampf ausbrechende Lebenspartnerin sind nur kleine Indizien dafür. Kohls Unsicherheit darüber, ob er nun „nur einen Kampf oder den Kämpfer“ verloren hat, ist dagegen eine ziemlich direkte Andeutung.

Es wäre immerhin ein Karriereende, das neue, weil bislang unentdeckte Stärken des Tigers hervorbringen könnte: Mit Ende des Boxkampfes präsentierte sich der Verlierer im Stile eines eloquenten Talkmasters, der künftig im polnischen Fernsehen seine eigene Sendung moderieren soll. Er honorierte die Leistung seines Gegners klatschend, streckte dessen Arme in die Höhe und verzichtete auf Selbstreferentielles. Stattdessen hoffte Michalczewski, „dass alle auf ihre Kosten gekommen sind“. Es könnte ein prima Schlusswort sein, nicht nur für diesen Kampf. Der Tiger sollte aufhören, bevor der Nebel sich verdichtet.