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Archiv-Artikel

Das Leben neben der Tonspur

Was meinen wir eigentlich, wenn wir über Musik sprechen? Bei den Musiktagen in Donaueschingen gab es darauf manch radikale Antwort zu hören. Und einige Kompositionen von klassischer Statur

Eines der schönsten Orchesterwerke der letzten Jahre legte Emanuel Nunes vor

von BJÖRN GOTTSTEIN

Wenn Musik gestalteter Klang vor dem Hintergrund der Stille ist, dann wäre gestaltete Stille vor dem Hintergrund eines alles durchdringenden Klangs das Gegenteil von Musik. Das in etwa wird Peter Ablinger sich gedacht haben, als er damit begann, Löcher in weißes Rauschen hineinzufiltern, anstatt schwarze Noten aufs weiße Papier zu bringen. Ablinger komponiert, wenn man so will, eine Musik hoch minus eins, die nur Widerstand wecken kann, wo sie als Musik im klassischen Sinne des Wortes gehört wird.

An Ressentiments und Ablehnungen hat es nicht gefehlt, als der Österreicher, einer der Exponenten der diesjährigen Donaueschinger Musiktage, seine „Komplementäre Studie“ für Cello und Rauschklänge vorstellte. Es ist vielleicht noch nie so deutlich geworden wie an diesem Wochenende, dass wir nicht mehr wissen, was wir meinen, wenn wir von Musik sprechen.

Die Donaueschinger Musiktage hatten in diesem Jahr das Glück, mit einer ganzen Reihe guter bis sehr guter Stücke aufzuwarten. Das gilt auch, ja vielleicht noch mehr für die Komponisten, die an herkömmlichen Parametern der Gestaltung festhalten – Intervallstrukturen entwerfen, Gedanken in Orchesterfarben tauchen und Werke von klassischer Statur entwerfen.

Emanuel Nunes, portugiesischer Komponist und Jahrgang 1941, ist mit „Nachtmusik II“ eines der vielleicht schönsten Orchesterstücke der letzten Jahre gelungen. Das liegt nicht allein an der Komplexität des zigstimmigen Satzes, die überhaupt nur vorzustellen man sich nicht vorstellen kann.

Bei Nunes wächst die komplexe Konstruktion zu einem schwer atmenden Organismus heran. Ganz selten legt er wenige Stimmen frei, schafft Momente des Stillstands, bei dem man das Herz der Musik selbst schlagen hört, bis er das Stück schließlich unter schwerem Schlagwerk zur Ruhe trägt. Nunes lässt wissen, dass Musik eine Erfahrung bereit hält, die Beklemmung und Ekstase zur Deckung bringt.

Ein zweiter Komponist, bei dem Musik nichts anderes sein kann und will als eben Musik, ist Enno Poppe. Mit seiner figurativen Brillanz und seiner motivischen Schärfe unterscheidet sein Stück „Rad“ sich dem Gestus nach kaum vom späten Ludwig van Beethoven.

Aber Poppe verwendet zwei Keyboards mit blechernem Sound, die er während des Stücks fortwährend verstimmt. Bisweilen werden die Intervalle so klein, dass die gesamte Tastatur kaum mehr eine Oktave umfasst. Dadurch entstehen absurde Tontrauben im Zehnteltonabstand, die knallen, als erläge die Musik einem elektrischen Schlag.

Und natürlich gibt es Komponisten, die Musik auf einer anderen Ebene reflektieren, indem sie Musik über Musik schreiben. Walter Zimmermann beispielsweise, der mit „Subrisio saltat I“ an den Zyklus seiner „Ländlertopografien“ anknüpfte. Indem er die vermeintliche Archaik des Tanzes „mit Ironie“ entstellt, entledigt er sich der Bürde musikalischer Emphase. Im Stolpern und Stottern kommt die Musik wie sonst kaum je zu sich selbst, werden Klang und Motiv eins, wird die Unwahrscheinlichkeit der Wirklichkeit als ästhetischer Entwurf plausibel.

Die Werke von Nunes, Poppe und Zimmermann verweigern sich der herkömmlichen Terminologie nicht. Und es wären andere Künstler zu nennen, die ebenfalls in Donaueschingen zugegen waren, der Laptopmusiker Christian Fennesz etwa oder der Freejazzer Evan Parker, die dem Genre nach mit der klassischen Musik nichts gemein haben, die sich aber in den Lichtkegel der avancierten Musik zu stellen nicht sträuben.

Und trotzdem bleibt am Ende die Erkenntnis, dass es Musik, wie wir sie kennen, nicht immer geben wird.

Antoine Beuger zum Beispiel gestaltete geschlagene 48 Stunden mit drei Sprechern, knappen Texten und einer Hand voll erlesener Sinustöne. In dem verdunkelten Raum wird alles exponiert: das Getuschel der Passanten, die körperliche Verfassung der Sprecher. Nur dem gestalteten Klang selbst fällt kaum mehr eine Rolle zu. Der Klangkünstler Bernhard Leitner wiederum hat einen akustischen Punktstrahler entworfen, der Schall wie Licht über einen Spiegel tanzen lässt und einen mit den Ohren an den Wänden entlangführt, ohne Bedeutung über das physikalische Phänomen hinaus zu entfalten.

Das alles wurde weitgehend ohne Prätention und Dünkel ausgestellt. Und es wäre unangemessen, hier eine epochale Zäsur oder eine ästhetische Revolution zu diagnostizieren. Die beschriebenen Tendenzen haben eine lange Vorgeschichte. Es war das Glück und das Schicksal der diesjährigen Musiktage, sie in ihrer Brisanz und Widersprüchlichkeit zur Schau zu tragen. Donaueschingen hat seit langem wieder einmal bewiesen, dass es beanspruchen darf, das wohl wichtigste Festival für zeitgenössische Musik zu sein. Dass es überdies gut besucht, also nicht bloße Fachmesse, sondern ein echtes Publikumfestival ist, dass es selbst um eine so populistische Einrichtung wie Autogrammjäger nicht verlegen ist, steht auf einem anderen Blatt.