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Archiv-Artikel

BERNHARD PÖTTER über KINDER Jawohl, ich bin ein Spießbürger!

Je m‘accuse: Wer Kinder hat, wird zum Spießer. Unser höchstes Ziel im Leben: Ruhe, Ordnung, Sauberkeit

Zweimal hatte ich ihn ermahnt. Aber als Jonas zum dritten Mal mit seinen schlammigen Winterstiefeln auf den S-Bahn-Sitz kletterte, platzte mir dann doch der Kragen.

„Mensch, Jonas, lass das endlich sein“, schnauzte ich. „Du machst alles dreckig. Hier kann niemand mehr sitzen.“

Die Stimme meines Sohnes sagte „Bähbähbäh!“

Aber immerhin hielt er danach die Füße still. Eine Stimme in meinem Kopf sagte: „Was für ein Spießer bist du geworden.“ Und eine Stimme neben meinem Kopf sagte: „Was für ein Spießer bist du geworden.“

Das war Frank.

Mein alter Bekannter, bekennender Single, bekennender Nichtvater. Und natürlich cool.

„Ich ein Spießer?“, fragte ich unter Schock und setzte Jonas automatisch die Mütze auf, denn wir mussten aussteigen.

„Wie kommst du denn da drauf?“

„Schau dir doch dein Leben an“, sagte Frank. „Wann hast du das letzte Mal eine Nacht durchgemacht? Suchst du nicht inzwischen auch ein Haus im Grünen? Gestern bist du tatsächlich an einer roten Ampel stehen geblieben, obwohl die Straße frei war. Und habe ich dich nicht zum Geburtstag deiner Schwiegermutter mit einem Schlips um den Hals gesehen? Dich? Mit Schlips?“

Frank hat Recht. Ich bin zum Spießer geworden. Schuld ist nicht das Alter (Frank ist älter als ich). Schuld sind die Kinder. Oder besser: Es ist meine Rolle als familiäres Alphatier.

Ein kurzer Moment der Selbstkritik ergab: Für mich sind folgende Dinge nicht (mehr) witzig, cool oder echt abgefahren, ey: für einen Abend ins Theater nach Hamburg zu jetten; demolierte Buswartehäuschen irgendwie revolutionär zu finden; Hanuta-Papier und alte Sofas auf die Straße zu schmeißen; auf Partys bis zum Morgengrauen stumm in der Ecke zu stehen, irgendwas zu rauchen und irgendwas zu trinken, um bis zum nächsten Nachmittag den Kater auszuschlafen; seinen Urlaub auf der Piazza in Trastevere zu verdösen.

Urteil: Alter Sack. Privatisierender Familienvater. Spießer. Durchschaut haben mich bisher nur meine Kinder, die eine oder andere zornbebende Leserin und ein freischaffender Kleininquisitor.

Und nun eben Frank.

Gibt es einen einfacheren und gleichzeitig vernichtenderen Vorwurf als „Spießer“? Die Keule ist groß genug, um damit alles zu erwischen, was einem nicht passt – quer durch alle Altersgruppen, Milieus und Peergroups. Ein Spießer in Deutschland ist das, was ein liberal in den USA ist – schon der bloße Verdacht reicht aus für den sozialen Tod.

Denn alle hassen Spießer: Die wollen schließlich nur ihre Ruhe; Spießer legen Wert auf Zucht, Ordnung und Sauberkeit; Spießer haben Angst vor Veränderung; Spießer sind engstirnig und borniert; Spießer sehen nur auf ihren eigenen Vorteil.

Hmmmm.

„Wahrscheinlich sind wir Eltern unausweichlich Spießer“, sagte ich zu Frank, als wir mit Jonas die Gartenzwergausstellung verließen. „Wir wollen nur unsere Ruhe. Vor allem so zwischen ein und fünf Uhr morgens. Wir legen Wert auf Sauberkeit und Ordnung. Das sieht man am Zustand unserer Wohnungen nach einem Wochenende mit Kinderbesuch und am Zustand unserer Kleider nach unzähligen Kotzattacken. Wir haben Angst vor Veränderung, weil unsere Tages-, Karriere- und Lebensplanung mit Kindern natürlich nie ins Wanken gerät. Wir sind borniert, weil wir nicht alle fremdsprachigen Kinder aus dem Kindergarten gleichzeitig zu uns einladen. Wir sehen nur auf unseren eigenen Vorteil. Deshalb investieren wir unser Geld Gewinn bringend in unseren Nachwuchs und nicht etwa an der Börse.“

„Sehr witzig“, sagte Frank, inzwischen ein bisschen echt sauer. Es gefiel ihm nicht, dass der Spieß umgedreht wurde.

„Weißt du was? Diese Art der Selbstverteidigung – die ist total spießig!“

BERNHARD PÖTTERÜBER KINDER

Fragen zu Kindern? kolumne@taz.de Morgen: Bettina Gaus über FERNSEHEN