: „Ein kontraproduktiver Brief“
Nach Beslan muss Russland eingebunden werden, nicht isoliert, meint SPD-Fraktionsvize Gernot Erler
taz: Herr Erler, sollten auch Sie den offenen Brief unterschreiben?
Gernot Erler: Ja, ich habe ihn von dem US-amerikanischen Politologen Ronald Asmus bekommen, der den Brief auch unterschrieben hat.
Sie hingegen haben nicht unterschrieben. Warum?
Die in dem Brief geäußerte Kritik an Putin und der russischen Politik ist mindestens überzogen, darüber hinaus auch nicht belegt. Ich halte diesen hochdramatischen Ausbruch von Empörung für kontraproduktiv.
Was finden Sie überzogen?
Die Unterzeichner behaupten, Russland gefährde Europas Energiesicherheit. Das ist völlig unverständlich – Russland hat selbst in kritischsten Zeiten seine Verträge vorbildlich erfüllt. Es wird von einer systematischen Beeinträchtigung der Pressefreiheit geschrieben und dass Führer von Nichtregierungsorganisationen bedroht würden …
Und Sie selbst finden die Situation der Presse in Russland unbedenklich?
Zweifellos gibt es dort Besorgnis erregende Entwicklungen bei der Pressefreiheit. Aber zu behaupten, es gäbe eine systematische Ausrottung der freien Presse, ist schlicht falsch. Gerade nach Beslan hat es unzählige Kreml-kritische Berichte gegeben. Ich streite nicht ab, dass in dem offenen Brief Dinge angesprochen werden, die auch mir Sorgen machen. Aber ich kann nichts unterschreiben, was Ereignisse derart übertrieben darstellt oder sogar Fakten verdreht.
Der Parteivorsitzende Ihres Koalitionspartners, Reinhard Bütikofer, sieht das offenbar anders. Er hat unterschrieben, obwohl in dem Brief wohl auch der Kanzler zu den westlichen Führern gehört, die den Diktator Putin umarmen. Gibt es bei Rot-Grün Streit über den Umgang mit Russland?
Nein, bisher weiß ich davon nichts. Was Herr Bütikofer hier getan hat, ist mir unverständlich. Ich weiß nicht, ob er den Brief richtig gelesen hat. Ich weiß auch nicht, ob er sich bewusst ist, was er da getan hat. Mit den indirekten Vorwürfen an den Bundeskanzler unterstützt der Parteivorsitzende eines Koalitionspartners die massive Kritik der Union.
Ist denn Kritik an der Russlandpolitik der Regierung verboten, nur weil sie auch von der Union kommt?
Natürlich nicht. Aber dann hätte ich eine Diskussion in der Koalition erwartet. Was soll man davon halten, wenn in der Vorwoche sich die Grünen noch zu der Politik des von ihnen gestellten Außenministers bekennen und nun so etwas. Herr Bütikofer sollte diese Unterschrift gut überdenken und öffentlich erklären. Denn die bisherige Politik besteht in dem Versuch, Russland einzubinden, nicht es zu isolieren.
Sind Sie zahmer als die Grünen?
Russland befindet sich nach Beslan in einer kritischen Lage. Es besteht die Gefahr, dass sich das Land jetzt einigelt, einsame Entscheidungen trifft. Es wird schon erwogen, wie die USA unter Bush künftig auf präventive Schläge zu setzen. Wer das nicht will, sollte Russland nicht in die Isolation treiben.
Übertreiben Sie die Bedeutung des Briefes nicht? Bisher ist der in Russland kaum beachtet worden.
Sie können sicher sein, dass er in den russischen Amtsstuben sehr aufmerksam gelesen wird. Und er wird jene Kräfte in Russland stützen, die den westlichen Regierungen und Medien unterstellen, Russland schwächen zu wollen.
Unter den Unterzeichnern sind viele ehemalige Ministerpräsidenten und Minister. Würden auch die amtierenden Staatschefs Russland gern mal die Meinung sagen und trauen sich nicht?
Ganz allgemein müssen aktive Politiker viel stärker auf ihr Handeln und dessen Folgen achten. Eine besondere Stimmung gegenüber Russland sehe ich nicht. INTERVIEW: DANIEL SCHULZ