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Archiv-Artikel

Akteur ohne Verantwortung

In Frankreich wird der Ruf nach einer Volksabstimmung über die Aufnahme der Türkeiin die EU laut. Doch solch eine Entscheidung eignet sich keinesfalls für ein Referendum

Die Kommission muss regelmäßig prüfen, inwieweit die nötigen Reformen umgesetzt sind

Nicholas Sarkozy, Noch-Finanzminister und aufstrebender Stern am französischen Polit-Himmel, will seine Landsleute darüber abstimmen lassen, ob die Türkei der Europäischen Union beitreten darf. Wer das von vornherein als Populismus abtut, sollte sich daran erinnern, dass Erweiterungskommissar Günter Verheugen vor der jüngst abgeschlossenen Erweiterungsrunde eine ähnliche Forderung aufstellte. Er wollte damals die Mitgliedschaft von Polen keineswegs verhindern – im Gegenteil. Er wollte erreichen, dass sich die Deutschen in einer Referendumskampagne mit ihrer eigenen und der europäischen Geschichte auseinander setzen und dank der daraus gewonnenen Einsichten Polens Beitritt aktiv unterstützen. Ob dieses Kalkül aufgegangen wäre und was eine deutsche Ablehnung der Osterweiterung für die Zukunft Europas bedeutet hätte, ist eine hypothetische Frage.

Es darf allerdings bezweifelt werden, dass Sarkozys Motive ebenso lauter sind. Sucht man nach verborgenen Gemeinheiten, die geeignet sein könnten, seinem größten Widersacher Jacques Chirac zu schaden, wird man bei ihm meistens fündig. Der Präsident der Republik hat sich öffentlich festgelegt. Er will im kommenden Jahr die Verhandlungen mit der Türkei beginnen. Seine eigene Partei UMP, deren Vorsitzender Sarkozy Ende November zu werden hofft, ist strikt dagegen. Ein drohendes Türkei-Referendum in Frankreich würde den Beitrittsprozess von Anfang an belasten.

Die UMP fürchtet, dass die Wähler das für nächstes Jahr geplante Referendum über die EU-Verfassung nutzen könnten, um ihre ablehnende Haltung zur Türkei kund zu tun. Damit wäre das Verfassungsprojekt geplatzt. Deshalb stellt Sarkozy über die Türkei-Frage ein gesondertes Plebiszit in Aussicht.

Die Idee könnte Nachahmer finden. In vielen Mitgliedsländern ist die Türkei-Neigung der Regierung – aus sicherheitspolitischen Erwägungen– deutlicher ausgeprägt als die der Bürger. Ähnlich wie beim Euro könnte das manchen Politiker auf die Idee bringen, dem Projekt durch eine Volksabstimmung mehr Legitimität zu verschaffen. Der Euro wurde 1992 in Frankreich mit hauchdünner Mehrheit akzeptiert. Dänemark lehnte ihn ab. Die Iren dagegen waren begeistert.

Wer den Euro nicht wollte, führte ihn eben nicht ein. Die Dänen leben seit zwölf Jahren vergnügt außerhalb der Währungsunion. Ein ähnliches Verfahren wäre auch für die Verfassung denkbar. Volksabstimmungen könnten ihr die Legitimität verschaffen, die ein Europäisches Grundgesetz braucht. Wenn die Bürger eines Landes sie ablehnen, muss die Gemeinschaft die Entscheidung respektieren. Es sollte aber klar sein, dass ein Land damit teilweise aus der Gemeinschaftspolitik aussteigt. Dann entsteht das schon häufig an die Wand gemalte Europa der zwei Geschwindigkeiten. Die Konstruktionen, die dafür gefunden werden müssen, sind eine Herausforderung für juristische Experten. Der Nizza-Vertrag bliebe in Kraft. In allen Bereichen, wo die neue Verfassung darüber hinaus gemeinschaftliches Handeln vorschreibt, müssen gesonderte Gremien geschaffen werden. Ein europäisches Schrumpfparlament müsste sein Mitentscheidungsrecht wahrnehmen – ohne die Abgeordneten aus den Ländern, wo das Verfassungsreferendum gescheitert war. Denn es kann nicht angehen, dass ein europaverdrossenes Land alle anderen daran hindert, in ihrer Integration schneller voran zu schreiten.

Für die Erweiterung der Europäischen Union taugt dieses Modell allerdings nicht. Sollte es in einigen Jahren Volksabstimmungen über den Türkei-Beitritt geben, von denen einige negativ ausfallen – was könnte die politische Folge sein? Großbritannien gehört künftig zur EUplus, Frankreich weiterhin zur EU? Undenkbar. Wenn aber ein Land mit seinem Nein das Ja aller anderen zunichte machen könnte, wäre das ebenfalls inakzeptabel. Weit schwerer aber wiegt, dass bei einem solchen Referendum eine Konstellation entstehen würde, bei der ein Volk über das Schicksal eines anderen Volkes abstimmt – ohne selber Konsequenzen fürchten zu müssen. Franzosen oder Deutsche könnten für alle Zukunft die Westperspektive der Türkei zerstören, auch wenn die Mehrheit der türkischen Bürger den EU-Beitritt will und die politischen Voraussetzungen erfüllt sind.

Viele europäische Regierungen haben in der Vergangenheit die Bürger darüber abstimmen lassen, ob sie zur Europäischen Union gehören wollen. Den Rekord halten derzeit die Schweizer. Dreimal mussten sie seit 1972 in dieser Frage an die Urnen – das Ergebnis ist bekannt. Ressentiments werden dadurch nicht geschürt. Die Schweiz entscheidet über ihre eigene politische Zukunft, unmittelbare Auswirkungen auf das Schicksal der anderen EU-Bürger hat das nicht.

Dass Länder, die schon zur Union gehören, über mögliche neue Familienmitglieder abstimmen, hat es bislang in der Geschichte der Union nur zweimal gegeben. 1972 fragte Georges Pompidou seine Franzosen, ob sie es mit den Brits, den Dänen, Iren und Norwegern unter einem gemeinsamen Dach aushalten könnten – immerhin 68 Prozent sagten, das sei ihnen möglich. Ein Nein hätte sicher die Beziehungen zu den Nachbarn im Norden empfindlich gestört. Die Eiserne Lady Margaret Thatcher und der von ihr erkämpfte Rabatt auf die britischen Beitragszahlungen wären uns dennoch nicht erspart geblieben. Denn das Plebiszit hatte nur konsultativen Charakter, die Regierung hätte sich darüber hinwegsetzen können.

Wenn ein Land mit seinem Nein das Ja aller anderen zunichte machte, wäre das inakzeptabel

Der zweite Fall stammt aus Europas jüngster Geschichte und ist völlig anders gelagert. Die griechischen Zyprioten entschieden Ende April mehrheitlich, dass der türkische Teil der Insel nicht in die EU aufgenom-men werden soll – obwohl die türkischen Zyprioten sich für den Beitritt aussprachen. Eine solche Konstellation, wo die Bürger eine Entscheidung über ihre Nachbarn treffen, die für sie selbst folgenlos bleibt, eröffnet populistischen Politikern alle Möglichkeiten. Sie können Ängste schüren, Gerüchte verbreiten, die Stimmung anheizen – und der Preis dafür wird außerhalb ihrer Landesgrenzen entrichtet.

Wenn die nächstes Jahr beginnenden Beitrittsverhandlungen wirklich die wohltuende Wirkung auf die türkische Gesellschaft entfalten sollen, die Befürworter des Beitritts prophezeien, dann dürfen sich nicht am Ende diejenigen, die bereits warm und trocken an den Fleischtöpfen sitzen, zum Richter über diejenigen aufspielen, die davon etwas abhaben wollen. Handeln dürfen nur diejenigen, die für ihre Aktionen auch Verantwortung tragen müssen: Die Kommission muss regelmäßig prüfen, inwieweit die nötigen Reformen umgesetzt sind. Die Regierungschefs müssen den Zeitpunkt bestimmen, zu dem sie die EU und die Türkei für beitrittsreif halten. Und die türkische Bevölkerung muss sich in einem Referendum zur EU bekennen oder den Beitritt ablehnen – mit allen daraus resultierenden Konsequenzen. DANIELA WEINGÄRTNER