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Archiv-Artikel

Von einem, der zu schnell aufgab

Über 100 Moscheen und Gemeindezentren wurden mit Geld aus Saudi-Arabien in Bosnien gegründet

aus Sarajevo ERICH RATHFELDER

In den letzten Jahren seines Lebens hat Alija Izetbegović in seiner Heimat viel von seinem Renommee verloren. Dem kleinen Mann mit den klugen Augen war es zwar gelungen, Bosnien durch den Krieg 1992–95 in die Unabhängigkeit zu führen, ein Verdienst, das ihm zumindest in der muslimischen Bevölkerungsgruppe hoch angerechnet wird. Doch schon vor seinem Rücktritt aus dem dreiköpfigen Staatspräsidium Bosnien und Herzegowinas vor drei Jahren sank sein Ansehen. Gerüchte über die Familie Izetbegović’ schwirrten durch die Stadt. Sein Sohn sei in allerlei dunkle Geschäfte verwickelt. Und der gläubige Muslim habe sich zu sehr mit religiösen Extremisten in der arabischen Welt eingelassen und nichts gegen die korrupte Führungsschicht der muslimischen Nationalpartei SDA unternommen, erklärten seine Kritiker. Doch jeder, der Bosnien kennt, weiß, dass alle, die sich einen Namen machen, von der „Raja“ – der gesellschaftlichen Führungsschicht in Sarajevo – unerbittlich auf Normalmaß zurechtgestutzt werden.

Dies ändert sich erst mit dem Tod. Schon kurz nach der Nachricht vom Tod Izetbegović’ war die bosnische Hauptstadt wie gelähmt. Selbst die größten Gegner des früheren Staatspräsidenten im eigenen, muslimischen Lager zeigten sich traurig und betroffen.

Alija Izetbegović hat von Beginn seiner politischen Laufbahn an wegen seiner Überzeugungen Widerspruch auf sich gezogen. Schon mit 21 Jahren, also 1946, musste Izetbegović erstmals ins Gefängnis. Sein Verbrechen war, dass er den „Jungen Muslimen“ angehörte, einer religiös-politischen Organisation, die forderte, die bosnische Mehrheitsbevölkerung, die Muslime, als „Nation“ im Vielvölkerstaat Jugoslawien anzuerkennen. Kroaten und Serben wollten dies nicht zugestehen und sahen die Muslime als Teil ihrer eigenen Nation. Der jugoslawische Staatschef Tito war es, der in der Verfassung von 1974 durchsetzte, dass Muslime den anderen Nationen gleichgestellt wurden.

Was allerdings nichts an Izetbegović’ antikommunistischer Haltung änderte. Als Gläubiger lehnte er den atheistischen Staat ab, klagte ethische Prinzipien ein, forderte aber auch vom Islam, sich zu modernisieren und sich der Demokratie zu öffnen. Fünf Jahre lang saß er im Gefängnis von Foca und bildete dort eine Gruppe, die später, 1990 nach der Öffnung des Kommunismus, das Führungspersonal der muslimischen Nationalpartei SDA bilden sollte.

Izetbegović war also auf seine Weise ein Rebell. Und das machte ihn zu einer widersprüchlichen Person. So existieren bis heute die übelsten Gerüchte über seine Schriften. In Serbien wird Izetbegović als islamischer Fundamentalist bezeichnet, der die Scharia in Bosnien habe einführen wollen. Die Führung der bosnischen Serben wirft ihm Völkermord an den Serben vor. Dass gerade zwei Tage vor dem Tod Izetbegović’ der ehemalige serbische Bürgermeister seiner Heimatstadt, Blagoje Simić, vom Kriegsverbrechertribunal in Den Haag zu 17 Jahren Haft verurteilt wurde, weil er 1992 die Vertreibung der Nichtserben aus der Stadt organisierte, spielt für sie keine Rolle.

Sicherlich, Izetbegović war ein gläubiger Muslim, ein Vertreter des toleranten, des europäischen Islam. Seine politische Position ist von der Erfahrung seiner einstmals multikulturellen, von Katholiken, Orthodoxen und Muslimen bewohnten Heimatregion an der Grenze Kroatiens geprägt. Er sah sich nicht als Gegner anderer Religionen: Der bosnische Islam, wie der Islam insgesamt, erkennt ja das Alte Testament und auch Christus als Propheten an. Sein Kampf galt den atheistischen Strömungen in der Gesellschaft. Dass die Muslime Bosniens wenig religiös und in ihren Lebensgewohnheiten von anderen Europäern kaum zu unterschieden sind, wollte er nicht akzeptieren.

Nach außen hin vertrat Izetbegović zu Beginn des Krieges 1992 die gesamte Gesellschaft und nicht nur die Muslime. Er versuchte als Vorsitzender der muslimischen (seit 1994 bosniakischen) Nationalpartei SDA beiden Anforderungen gerecht zu werden. Ihm half, dass das nationale Interesse der bosnischen Muslime bis dato auf den Erhalt des Gesamtstaates Bosnien gerichtet war, während serbische und seit 1993 auch die kroatischen Nationalisten versuchten, Teile des Landes zu erobern und die von ihnen ethnisch gesäuberten Gebiete mit den beiden Staaten Kroatien und Serbien zu vereinigen. Ihm half auch, dass anfänglich viele Serben und Kroaten aufseiten des angegriffenen Reststaates gegen die nationalistische Intoleranz kämpften.

Nach dem serbischen Massenmord an Muslimen in Ost- und Westbosnien 1992 und nach dem Angriff der kroatischen Nationalisten 1993 änderte sich jedoch die Haltung der Muslime in Bosnien. Vom Genozid bedroht, wandten sich viele der Religion zu. Teile der muslimischen Partei versuchten, den bosnischen Reststaat als muslimischen Staat zu definieren und nun ihrerseits über die Teilung Bosniens nachzudenken. Mit dem „Auge um Auge, Zahn um Zahn“ setzte insgesamt eine Entwicklung zur Intoleranz in den muslimisch kontrollierten Gebieten ein.

Mit 21 Jahren forderte Izetbegović, die Muslime als eigene Nation in Jugoslawien anzuerkennen

In der bosnischen Armee wurden unter Mitwirkung Izetbegović’ bisher loyale Serben und Kroaten auf unbedeutende Posten geschoben. Nicht nationalistisch gesinnte muslimische Intellektuelle und Politiker wie der Bürgermeister von Tuzla, Selim Bezlagić, gerieten unter Druck. Und Alija Izetbegović zeigte nun offen seine Religiosität. Gemischte Ehen sollten nicht mehr geschlossen werden, Schweinefleisch wurde von den Märkten verbannt.

Vom Westen immer wieder im Stich gelassen und zugleich von arabischen Staaten mit viel Geld unterstützt, war die Versuchung für Izetbegović natürlich groß, sich mit den Arabern zu arrangieren. Zwar bezog der Westen mit der Intervention der Nato nach dem Massaker von Srebrenica 1995 endlich eindeutig Stellung. Der unter US-amerikanischem Druck zustande gekommene Friedensvertrag von Dayton verhinderte die endgültige Vernichtung Sarajevos. Die versprochene Rekonstruktion der multikulturellen Gesellschaft wurde in dem Abkommen versprochen, mit der Anerkennung der Republika Srpska und der Gründung einer bosniakisch-kroatischen Föderation wurde die Teilung des Landes jedoch festgeschrieben. Weil die Föderation faktisch zwischen Kroaten und Muslimen „aufgeteilt“ ist, wurde die Herrschaft der nationalistischen Kriegsparteien in ihrem jeweiligen Bereich bestätigt.

Und daran krankt Bosnien und Herzegowina bis heute. Es gibt drei Verwaltungen, drei Polizeiformationen, drei Armeen und Schulsysteme, drei Medienwelten. Hat Izetbegović in Dayton wirklich hart genug für einen einheitlichen Bürgerstaat gekämpft, oder hat er sich zu schnell mit der Teilung des Landes zufrieden gegeben? Vieles deutet darauf hin, dass es zumindest Teilen der SDA nicht ungelegen kam, einen eigenen Herrschaftsbereich zu haben, in dem der Islam dominieren kann. Dieses Ziel, die Religion in die Gesellschaft zurückzubringen, hat ja auch Izetbegović von Anfang an verfolgt. Mehr noch: Mit saudi-arabischem Geld wurden über 100 Moscheen und Gemeindezentren gegründet, in denen fundamentalistische Wahhabiten das Sagen haben.

Izetbegović, der Anhänger eines toleranten, bosnischen Islam, hat dabei geholfen, den Fundamentalisten die Tür nach Europa zu öffnen. Zwar hat die internationale Gemeinschaft mit ihrer Präsenz durch Sfor-Friedenstruppen, internationale Polizei und der zivilen Administration des „Büros des Hohen Repräsentanten“ viel Einfluss auf die Politik in Bosnien und Herzegowina. Sie versucht in allen gesellschaftlichen Bereichen Trennungen zu überwinden. Doch dies scheitert oftmals an der muslimischen SDA. Das ist der Kern der Kritik an Izetbegović unter nichtnationalistischen Muslimen. Und das sind nicht wenige. Bei den Parlamentswahlen 2000 gewannen die nichtnationalistischen Parteien unter Führung der Sozialdemokraten in den muslimisch dominierten Gebieten die Mehrheit der Stimmen. Trotz dieser Gräben zwischen nationalistischen und nicht nationalistischen Muslimen werden alle an der Beerdigung Izetbegović’ teilnehmen. So widersprüchlich ist das in Sarajevo.