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Archiv-Artikel

ENTZEIT(UNG)

VON JULI ZEH

Prolog

Meine sehr verehrten Damen und Herren, liebe Analphabeten und Analphabetinnen, Legastheniker und Legasthenikerinnen, liebe Feinde des gedruckten Wortes!

Es ist so weit. Sie werden bemerkt haben, dass sich die deutsche Presse in einer schwer wiegenden Krise befindet, die sie mithilfe von Anzeigenrückgang und Leserverunsicherung nicht zuletzt selbst herbeigejammert hat. Hinter dem andauernden Klagen ist Überdruss auf allen Seiten zu spüren, man scheint diesseits und jenseits der Redaktionstische keine Lust mehr zu haben. Die Leser klagen über das sinkende Niveau der Berichterstattung, die sie für dumm verkauft, während die Zeitungen die fortschreitende Verdummung ihrer Leserschaft bedauern, an die sie sich anzupassen haben.

Zudem arbeitet die Rechtschreibreform seit Jahren an der Abschaffung der deutschen Schriftsprache, und das mit zunehmendem Erfolg. Wer will schon Zeitungen lesen? Heutzutage kann man über alles reden und hört dabei auch die orthografischen Fehler nicht. Zeitungen kosten, wie der Name schon sagt, eine Menge Zeit, die wir nicht haben. Inaff ist inaff, wie der Engländer sagt. Irgendwann gilt es, Konsequenzen zu ziehen. Warum soll ich zwanzig Minuten in das Lesen eines Artikels investieren, wenn ich zum gleichen Thema eine zweistündige Talg-Schau mit Christiane Sabinsen sehen kann? Warum soll ich zum Briefkasten gehen, wenn der Fernseher neben dem Bett steht? Warum soll ich die Augen öffnen, wenn ich Radio hören kann? Hat eine Zeitung eine Fernbedienung? Eben. Reden ist Silber, Schreiben ist Schrott. Diese Parolen murmele ich bei angeschaltetem Diktiergerät in den langen Bart des Kommunikationszeitalters. Meine Freunde von der taz werden sie drucken, bevor sie ihren veralteten Laden endgültig dichtmachen. Danach gibt es Texte wie diesen nur noch auf CD-ROM, als Power-Point-Präsentation, Hörbuch, Kurzfilm, Internetportal oder per SMS direkt aufs Handy. Sie sehen, man braucht kein bedrucktes Papier, um ein Schlagwort in die Welt zu tragen, das heute zum Beginn des großen Blätterwaldsterbens aus der Taufe gehoben wird: ENTZEITUNG!

Meine Damen und Herren, mit Jahresende werden sämtliche deutschsprachigen Zeitungsverlage geschlossen. Wir steigen aus, mindestens so gründlich, wie wir aus der Atomenergie ausgestiegen sind. In anderen EU-Ländern zeichnen sich Bestrebungen ab, unserem innovativen Beispiel zu folgen. Ich heiße Sie zum Ende einer Epoche willkommen!

Als Zeitungsleser werden Sie vielleicht glauben, die tägliche Papierlektüre erfülle gewisse Funktionen in Ihrem Leben. Nachdem Sie zehn Jahre lang auf die Presse geschimpft haben, meinen Sie im Moment ihrer Abschaffung plötzlich, dass es ohne auch nicht geht. Aber ich kann Sie beruhigen: Hierbei handelt es sich um reine Gewöhnungseffekte, die durch Konditionierungsmaßnahmen beseitigt werden können. Die folgenden Paragrafen halten entsprechende Tipps und Ratschläge für Sie bereit. Schließlich soll Ihnen nichts wehtun. Machen Sie sich fit für den Postprintismus! Ich wünsche Ihnen eine gute zeitungsfreie Zeit.

§ 1: Print-Gymnastik

Sie ist Ihnen wohl vertraut, die weitherzige Gebärde, mit der Sie segnend die Arme ausbreiten, um eine großformatige Zeitung wie FAZ oder Zeit aufzuschlagen. Man hält sich rechts und links an den Rändern bedruckten Papiers fest, weitet die Brust und führt die Hände auf Augenhöhe rechts und links weit in die Luft hinaus, als wollte man die ganze Welt umarmen. Und genau das geschieht auch, denn nun liegt alles zwischen unseren Händen, was die Menschheit sich täglich selbst zu erzählen weiß – ein Mikrokosmos aus Liebe, Hass, Geld, Macht, Glück und Leid. Diese Geste hilft dabei, sich auf unserem unübersichtlichen Planeten zu Hause zu fühlen. Beginnen Sie deshalb frühzeitig mit substituierenden Übungen, warten Sie nicht auf das Verlustgefühl! Extra für Sie haben die Experten der Entzeitung einen wirksamen Ausgleichssport entwickelt: die Print-Gymnastik.

1. Suchen Sie einen besinnlichen Ort auf. Benutzen Sie öffentliche Verkehrsmittel, setzen Sie sich in ein Café, ins Wartezimmer eines Zahnarztes oder an den Tresen einer Bar in Bahnhofsnähe.

2. Zuerst bringen Sie Ihren Körper in entspannt zurückgelehnte Haltung, Hände auf den Oberschenkeln, Daumen und Zeigefinger zu einem O geformt, das für „Ohne geht's besser“ steht. Atmen Sie langsam ein und doppelt so lange aus.

3. Jetzt strecken Sie die Arme schwungvoll zu beiden Seiten, holen tief Luft und ballen die Hände zu Fäusten.

4. Wenn Sie Ihrem Nebenmann dabei die Brille von der Nase stoßen, sagen Sie: „Verzeihung, ich habe nie verstanden, warum die Idioten ihre Blätter so übertrieben formatieren“ und lachen befreit. Wiederholen Sie diese Übung mehrmals am Tag. Regelmäßige Anwendung fördert Kommunikationsfreude und Weltbezug. Sie bewahren Ihre innere Stärke sowie Verbindung mit dem Göttlichen.

§ 2: Erkennungszeichen

Bestimmt kennen Sie das: Schon zu Schulzeiten und erst recht auf der Universität war es von enormer Wichtigkeit, welche Zeitung man in Klassenzimmer oder Hörsaal aus der Tasche zog. Die Krawattenträger mit Berufsziel „BWL-Abschluss in sechs Semestern“ lasen die Frankfurter Allgemeine Zeitung. Hatten sie ein Jahr auf Oxford High verbracht, war es The Daily Telegraph oder The Times. Angehende Deutschlehrer, Soziologiestudenten und sonstige Kleinintellektuelle fühlten sich hinter der Süddeutschen am wohlsten, während sich schwarze Rollkragenpullover und eckige Architektenbrillen mit hoher Wahrscheinlichkeit hinter der Zeit Zeit aufspüren ließen. Über der Oberkante Neues Deutschland schauten die grün gefärbten Spitzen einer Irokesen-Frisur hervor, und wer das geräuschvolle Einläuten des postmaterialistischen Zeitalters noch nicht vernommen hatte, blätterte im Werbeblättchen vom Mediamarkt. Zeitungsentfaltung war Selbstentfaltung.

Auch nach der Entzeitung soll niemand darauf verzichten müssen, seine Geisteshaltung unter dem Arm zu tragen. Sie wollen zum Blinddate und dachten daran, den Stern in die Manteltasche zu stecken? Stapeln Sie stattdessen die gesammelten Werke von John Grisham gut sichtbar in der rechten Armbeuge. Sie legen Wert darauf, im ICE Ihre überlegene Stellung als intellektueller Zugreisender gegenüber dem lärmenden Wochenendticket-Pöbel abzugrenzen? Sortieren Sie eine vierundzwanzigbändige Ausgabe des Brockhaus über sich ins Gepäcknetz und stehen Sie gelegentlich auf, um sich einen Band herauszugreifen. Sie machen Urlaub auf Mallorca und sind deswegen noch lange kein Tourist? Kaufen Sie eine Schubkarre und nehmen Sie die Faksimile-Ausgabe von „Zettels Traum“ mit an den Strand. Bei Berücksichtigung dieser einfachen Ratschläge haben Sie keinen Identitätsverlust zu befürchten. Im Gegenteil werden sich die Konturen Ihrer äußeren Person erheblich verschärfen. Erleben Sie, was es bedeutet, ein unvergessliches Erlebnis zu sein.

§ 3: Altpapier

Um den menschlichen Frischluftbedarf zu decken und die Verbrennung von wenigstens 400 Kilokalorien in der Woche sicherzustellen, hat sich der regelmäßige Gang zum Altpapiercontainer für Studenten, Künstler und andere Freiberufler als unverzichtbar erwiesen. Zur Erweiterung seines Wohnvolumens war der Zeitungskonsument gezwungen, alle paar Tage seine Höhle zu verlassen, sich dem Sonnenlicht auszusetzen und in Kontakt mit der Außenwelt zu treten. Vor allem in Schriftstellerhaushalten schichtete sich der Altpapierausstoß dreier Tageszeitungsabonnements zur Treppe aus dem Elfenbeinturm, sorgte für Bodenhaftung und eröffnete wichtige Recherchemöglichkeiten auf den häufigen Spaziergängen zur blauen Tonne.

Während des Zeitungsentzugs werden Sie vielleicht das Bedürfnis verspüren, zum Alkohol zu greifen, Berge von leeren Flaschen zu erzeugen und auf diese Weise einen Vorwand für substituierende Ausflüge zum Glascontainer zu schaffen. Aber das muss nicht sein. Es gibt auch ohne Zeitung Alternativen zur Alkoholsucht. Da die Zeitungspreise bekanntermaßen ins Unermessliche gestiegen sind, wird es Sie freuen zu hören, dass Sie ganz einfach Ihr eigenes Altpapier erzeugen können. Und das schon ab 200 Euro im Monat. Und so wird's gemacht:

1. Kaufen Sie einmal täglich im Schreibwarengeschäft 20 Blatt Papier im Format DIN A2 (ca. 5 Euro)

2. Bedrucken Sie die Blätter mit den Inhalten irgendeiner ReadMe-Datei aus Ihrem Computer (Farbverbrauch ca. 2,10 Euro). Falls die großen Seiten nicht in den Drucker passen, rate ich zur einmaligen Investition in eine Druckmaschine (gebraucht schon ab ca. 3.000 Euro).

3. Nun werden die Blätter übereinander gelegt, in der Mitte geheftet und gefaltet.

4. Fangen Sie nicht an, die fertige Zeitung versehentlich zu lesen. Dafür ist sie nicht gedacht.

5. Sammeln Sie Ihr selbst gemachtes Altpapier auf einem Stapel in der Küche. Mit einem Arbeitsaufwand von zwei Stunden pro Tag – nur sechsmal mehr, als Sie früher zum Überfliegen der Leitartikel gebraucht haben –, werden Sie zum Chef Ihres eigenen Papiermülls. Genießen Sie die Unabhängigkeit von Verlagskrisen und halsabschneiderischen Preiskalkulationen. Schließlich kostet schon ein Abonnement der taz 28 Euro im Monat.

§ 4: Quellennachweis

Jeder Mensch hat gern Recht. Um Recht haben zu können, bedarf es allerdings des Anscheins von objektiver Wahrheit. Hier hat die Presse immer gute Dienste geleistet. Wissenschaftskritische Intersubjektivitätsdebatten, das philosophische Ringen um die Fragmentierung von Wirklichkeit und der Siegeszug postmoderner Beliebigkeit endeten abrupt vor den Türen der Zeitungsredaktionen. Ein Journalist sagt nicht „Ich glaube …“, er sagt nicht einmal „Meinen Informationen nach …“ und schon gar nicht „Man kann doch eigentlich nichts wissen“. Er sagt: „Das ist so und so.“ Eine stabile Faktengrundlage ist für jeden Besserwisser unentbehrlich.

Besonders ein bekanntes Hamburger Nachrichtenmagazin, dessen Name wie jener Unseres Herrn im Alltagsgebrauch nicht direkt ausgesprochen werden sollte, arbeitete gemeinsam mit seinem Nachahmer Focus hartnäckig an der Abschaffung des Subjektiven zugunsten einer Welt aus Statistiken, Säulenmodellen und Tortendiagrammen. Wollte jemand im Verlauf einer Diskussion Zweifel am Sosein der Dinge anmelden, konnte der Name des Allmächtigen angerufen werden: „Das stand aber im Spiegel!“ Auch in diesem Sinn bringt die Entzeitung einen mächtigen Postmodernisierungsschub mit sich. Fernsehen und Internet als uneigentliche Medien vom Dienst werden der Zerschlagung des anachronistischen Objektivitätsmonopols nicht im Wege stehen. Gewöhnen Sie sich möglichst bald daran, Ihre Diskursbeiträge auf zeitgemäße Art zu formulieren. Beweisen Sie relativistische Weltsicht durch Verwendung des Konjunktivs II. Üben Sie folgende Sätze:

1. „Das hätte im Spiegel gestanden haben können.“

2. „Die Existenz einer überregionalen Tageszeitung vorausgesetzt, würde meine Auffassung durch den Leitartikel vom heutigen Tag belegt werden.“

3. „Die folgende Behauptung wäre durch ein Tortendiagramm darstellbar und besitzt somit ein hohes Wahrheitspotenzial.“

Testen Sie selbst erfundene Wendungen an Freunden und Bekannten. Wenn sich ein Gesprächspartner kopfschüttelnd abwendet, tun Sie dasselbe. Er hat diesen Artikel nicht gelesen.

§ 5: Einfalt

Nichts ist vielfältiger als Einfalt – wer einmal einen Falkplan besessen hat, weiß das. Der protestantische Bischof Spangenberg formulierte es vor 250 Jahren auf diese Weise: Heilge Einfalt, Gnadenwunder / tiefste Weisheit, größte Kraft / schönste Zierde, Liebeszunder / Werk, das Gott alleine schafft!

Spangenberg konnte nicht wissen, dass es eines Tages Menschen geben würde, die in der Lage sind, den Anzeigenteil der Leipziger Volkszeitung mit nur drei Knicken auf die Größe des interessantesten Immobiliengebots zusammenzulegen, um es sich in einer überfüllten Straßenbahn stehend vor die Augen zu halten. Ein erfahrener Zeitungsleser kann einen Haufen abgezogener Tapeten mit wenigen Handgriffen zu einem ordentlichen Heftchen falten. Mit viel Übung gelingt es ihm, einen Fortsetzungsartikel im Herald Tribune bis zum Ende zu verfolgen, ohne die Schere zur Hilfe zu nehmen. Fortgeschrittene können eine bereits gelesene Ausgabe der Zeit so zusammensetzen, dass Wirtschaftsteil, Wissen, Feuilleton und Literatur in richtiger Reihenfolge zu liegen kommen. Man sagt, ein fanatischer Zeitungsfreak habe nach 40 Jahren Abonnement der New York Times das Telefonbuch von Manhattan auf Briefmarkengröße geknifft.

Spätestens an dieser Stelle werden Sie fragen, wofür das gut sein soll. Die einfache Antwort lautet: Im Zeitalter von GPS gehört die Disziplin des Einfaltens in den Bereich der l'art pour l'art. Falls das kunstvolle Knicken von Papier eine meditative Wirkung auf Sie ausübt, schlage ich folgende Übersprungshandlungen vor:

1. Räumen Sie Ihren Schreibtisch auf.

2. Belegen Sie einen Origami-Kurs an der Volkshochschule.

3. Verschenken Sie eine Espresso-Maschine ohne Karton und packen Sie den Gegenstand formgenau in Geschenkpapier ein.

Vor allem aber sollten Sie sich darüber klar werden, dass Sie Ihre Gottesähnlichkeit à la Spangenberg auch auf moderne Weise unter Beweis stellen können, zum Beispiel durch das Programmieren eines Videorekorders. Denn: „Wie viele ihn aber aufnahmen, denen gab er Macht, Gottes Kinder zu werden …“ (Johannes 1,12). – Sie werden erleben, dass das Drücken von Knöpfen und Tasten auch nicht leicht ist und vergleichbare psychologische Effekte erzeugt.

§ 6: Versteck

Sie kennen das aus Comics, Kinderbüchern und Agentenparodien: Ein Mann mit Hut und Handschuhen sitzt auf einer Parkbank, Gesicht und Oberkörper völlig von der aufgeschlagenen Zeitung verborgen. Bei genauem Hinsehen entdeckt man im Titelblatt zwei Löcher, durch die er unbemerkt sein Opfer beobachtet. Ein ganz ähnliches Verfahren kommt täglich in tausenden von Situationen zum Einsatz – nur ohne Gucklöcher.

Beim Frühstück errichtet die Lokalzeitung eine spanische Wand und begrenzt die tägliche Sprechzeit verheirateter Paare auf die statistisch vorgegebenen neun Minuten. Angeklagte halten sich Zeitungen vor die Gesichter, während sie das Gerichtsgebäude verlassen. Der morgendliche Regionalexpress befördert einen ganzen Campingplatz aus Ein-Mann-Zelten mit der Aufschrift „Bild“. In New Yorker U-Bahnen verstecken Manager ihren „Harry Potter“ hinter der Financial Times. Was dem Kind die Tarnkappe aus dem Märchen, ist dem erwachsenen Menschen sein tragbares Versteck. Unbestreitbar hat die Presse viel dazu beigetragen, die sprichwörtliche Isolation des Massenbürgers auch in noch so beengten Lagen angemessen in Szene zu setzen. Inzwischen aber hält die Kommunikationsgesellschaft andere technische Errungenschaften zur Unterbindung von Kommunikation bereit, die vom Normalverbraucher noch gar nicht umfassend genutzt werden. Halten Sie Schritt! Die Entzeitung wird viele lieb gewonnene, aber wenig effektive Verhaltensweisen durch verbesserte Maßnahmen ersetzen. Auf eine quer über den Küchentisch gespannte Großbildleinwand können Sie mithilfe eines Tageslichtbeamers die Morgennachrichten projizieren, um Kontakte mit Ihrem Lebensgefährten endlich komplett zu verhindern. Wenn Sie einen Gerichtssaal betreten, schnallen Sie sich Ihr Handheld mit einem bequemen Gummiband vors Gesicht. Im öffentlichen Nahverkehr schafft ein blickdichter 24-Zoll-Bildschirm auf dem Schoß die anheimelnd anonyme Atmosphäre eines Großraumbüro-Arbeitsplatzes. Sie werden ganz neu erfahren, was es heißt, sich allein zu fühlen.

§ 7: Schimpfen auf die Presse

Die Bild ist ein geschwätziges Schundblatt, das mit Skandalmache den Republikfrieden bedroht. In der FAZ treffen sich Besserverdienende und Besserwisser zum gemeinsamen Zurechtschwafeln des kapitalismusgestützten Elfenbeinturms. Die Zeit versammelt vom Aussterben bedrohte Intellektuelle, um demnächst einen Preis als erstes gedrucktes Freilichtmuseum der Welt zu erhalten. Seit es das „Streiflicht“ in Buchform gibt, fällt der Süddeutschen Zeitung nicht mehr ein, warum man sie außerhalb SPD-regierter bayerischer Großstädte lesen soll. Die Welt deckt täglich einen hoch subventionierten Stammtisch mit gestärktem Leinen und Tafelsilber. Die taz bietet geschützte Räume für Altlinke zum kollektiven Tagträumen und stenografiert auch noch mit. Die FR beschränkt ihre Überregionalität auf Frankfurt am Main, und wer bis jetzt nicht erwähnt wurde, hat es auch nicht verdient.

Das Schimpfen auf die Presse ist unverzichtbare Voraussetzung moderner Realitätsbewältigung, denn: Die Welt ist alles, was den Anschein hat, und für Anschein in allen Facetten sorgt die vierte Gewalt. Schuld an Chaos, Dummheit und Ungerechtigkeit trägt derjenige, der die chaotische, dumme und ungerechte Welt Tag für Tag medial erschafft. Machen wir uns nichts vor: Das Schimpfen auf Politiker, die links am Faden der öffentlichen Meinung, rechts an jenem ökonomischer Großinteressen hängen, ist schon lange nicht mehr das Wahre.

Um mit der Entzeitung zurechtzukommen, müssen Sie Ihr Weltbild ändern. Besinnen Sie sich darauf, dass es nicht Zeitungen sind, die die Wirklichkeit erschaffen. Es ist das Fernsehen. Machen Sie sich klar, dass beim Fernsehen außer den Kameraleuten auch Journalisten arbeiten. Führen Sie Listen für die Übergangszeit (ARD = FR, ZDF = FAZ, 3sat = SZ, SAT1 = Welt, RTL = Bild, Arte = Zeit, usw.), damit Sie sich daran gewöhnen, verschiedene Weltanschauungen in bestimmten Sendern zu lokalisieren. Auf diese Weise erleiden Sie keinerlei Feindbildeinbußen. Bis Sie eines Tages das Zeitalter der Ent-Televisierung herbeigezetert haben werden. Aber das ist ja noch eine Weile hin.

Epilog

Das besondere Knistern des ersten Auseinanderfaltens. Der Geruch von Tee und frischer Druckerschwärze. Ein verregneter Sonntagnachmittag im Café, die langen Holzspangen am Haken – Wochenendausgaben zwischen Flügelschrauben. Wie die Sonne durch jene einzelne Seite scheint, die ein alter Mann vormittags auf seiner Parkbank liest! Wie der Wind sich jede weggeworfene Zeitung nimmt und aufgeregt darin blättert. Wie unendlich traurig bedrucktes Papier aussehen kann, wenn der Regen es auf die Straße klebt. Generationen von Kindern war sie Hut, Boot und Düsenflugzeug. Tausende von kleinen Katzen sind den Topmeldungen am Bindfaden hinterhergejagt.

Rief da eben jemand: „Ist es nicht schön?“ Ein solches viel-seitiges Wunderwesen sei durch nichts zu ersetzen? Haptisch, olfaktorisch und, ja, selbst akustisch bleibe sie einzigartig? War das einer von denen, die jüngst ihr Abo abbestellten, weil sie immer nur Zeit zum Überfliegen der Headlines auf Spiegel Online finden?

Nein, da hat niemand gerufen. Ich denke, ich habe mich verhört. Wir wollen doch das eine nicht abschaffen und durch etwas anderes ersetzen, nur um gleich darauf den Verlust des Ersten zu beweinen.

Sie können doch, meine Damen und Herren, so kurz vor dem Ziel keinen Rückzieher mehr machen?? Wenn eben doch – hier der last exit to Gutenberg:

1. Nehmen Sie dieses Blatt im Ganzen aus der taz heraus.

2. Heften Sie die kurze Seite mit Klebeband an einen Besenstiel.

3. Hissen Sie die weiße Flagge.

4. Danach gehen Sie los und kaufen sich eine Zeitung. Noch eine. Oder noch ganz viele.