piwik no script img

Archiv-Artikel

70°39‘ Süd, 08°15‘ West

Service-Kunst: Der Kölner Lutz Fritsch schickt Grass, Wolf & Co. in die Antarktis – die Forscher des Bremerhavener Alfred-Wegener-Instituts reiben sich die Hände

Einen schönen, heißen Grog in der Hand, die dick gefütterten Handschuhe ausgezogen – mit Fäustlingen ist nicht gut umblättern – und die Beine hochgelegt. Entspannt lehnt sich der Wissenschaftler auf dem braunen Ledersofa im Bibliothekscontainer zurück, blickt kurz auf die weite Schneelandschaft vor dem kleinen Fenster. Lieber noch‘n Hochprozentigen nachgießen, der Grass ist ja schwere Kost. In kuscheliger Atmosphäre in alten Klassikern schmökern und aufs ewige Eis schauen: Wer wünscht sich das denn nicht? Der Kölner Künstler Lutz Fritsch macht es in seinem Kunst-Projekt „Bibliothek im Eis“ in Kooperation mit dem Alfred-Wegener-Institut (AWI) möglich. Die Nutznießer: Eine Hand voll Wissenschaftler, die sich in der unwirtlichen Antarktis dem literarischen Genuss bald vollkommen hingeben können.

Vorab wurde gestern der äußere Rahmen an Bord der „Polarstern“, dem Forschungsschiff des AWI, von Bremerhaven auf seinen Weg zur Neumayer-Station in die Antarktis geschickt – ein schnöder Allerweltscontainer. Die Bücher folgen noch.

Fritsch sucht mit seinem Projekt einen Beitrag zum „Dialog von Kunst und Wissenschaft“ zu leisten, einen „Ort der Besinnung und des Nachdenkens“ zu schaffen. Etwa 500 Bücher hat er bereits – darunter Exemplare von Wolf Wondratschek, Tom Tykwer und Christa Wolf. Über 1.000 von Schriftstellern und Künstlern ausgewählte und mit Widmung versehene Bände möchte er bis Ende kommenden Jahres gesammelt haben. Bis dahin müssen sich die Eis-Eremiten noch gedulden.

Im Inneren des Containers spielt nicht mehr eine auf Funktionalität ausgelegte Einrichtung die Hauptrolle. Am Kopfende kann sich der Literat auf dem Ledersofa lümmeln. Warmes Kirschholz sorgt für wohlige Atmosphäre, während draußen der Schneesturm tobt.

Aus Kostengründen verzichtete man auf eine teure Containerkombination mit Glaselementen und griff auf den günstigeren Behälter zurück. Von außen betrachtet unterscheidet er sich nur farblich von seinen rostig-verbeulten Kollegen. In Grüntönen gehalten, wird er aber bald eine kontrastierende Landmarke im ewigen Eis setzen – da wo sonst jeglicher Maßstab für Entfernung und Raum fehlt. Zugleich wird sich die Lebensqualität in der Forschungsstation erheblich verbessern. Dies ist wohl das vordergründige Anliegen des AWI. Das ewige Eis lässt sich nun mal eher mit einem dicken Wälzer in gemütlichem Ambiente genießen. Dirk Strobel