: Quantenmechanik des Spiels
Dortmund rettet gegen Nürnberg ein 2:2. Das fünfte Remis in Folge war anders als in den Spielen davor nicht dämlich, sondern glücklich. In der Liga wartet der BVB weiter auf den ersten Heimsieg
AUS DORTMUND ULRICH HESSE-LICHTENBERGER
Es gibt Leute, die bezeichnen den Fußball als unberechenbar. Vielleicht war auch Bert van Marwijk früher so jemand, aber heute nicht mehr. Heute trainiert er Borussia Dortmund und weiß, dass nur derjenige etwas Neues und Überraschendes entdeckt, der in die Welt der Nuancen taucht, sozusagen in die Quantenmechanik des Spiels. Am späten Samstag Nachmittag zum Beispiel schleppte sich van Marwijk so vor die Mikrofone der Presse wie immer in dieser Saison: mit arretiertem Kiefer, leicht hängenden Schultern und traurigen Augen. Seine Elf hatte gerade gegen eine Mannschaft namens 1. FC Nürnberg gespielt, aber das ist eine Randnotiz, denn der Kontrahent hätte auch aus Wolfsburg kommen können, aus Hannover, München, Bochum, Mainz oder sogar aus dem belgischen Genk.
Wieder hatte die Borussia nicht gewonnen, wieder hatte sie sich durch Abwehrfehler selbst in die Klemme gebracht, wieder war sie daran gescheitert, den Ball aus fünf Metern Torentfernung ins Netz zu bringen. Diesmal hieß der verhinderte Held Dede, der zum ersten Mal seit sechs Wochen in der Startelf stand und seine Aufstellung schon nach einer Minute hätte rechtfertigen können. Aber da war wieder der Konjunktiv. Und so begann van Marwijk seine Analyse des 2:2 (2:2) zwischen Dortmund und Nürnberg mit einem Satz, dessen zweiten Teil man sich schon mal als Titel für seine Biographie vormerken sollte: „Bis jetzt habe ich immer hier gesessen und gesagt, wir müssten eigentlich drei Punkte haben.“ Dann aber ging er zu den Nuancen über: „Heute ist das anders, heute waren wir nicht gut. Ich bin jetzt auch enttäuscht, aber auf eine andere Art.“ Man könnte einwenden, dass seine Elf schon gegen die Bayern nicht wirklich gut war, aber in Zeiten, in denen sogar das Gründungshaus der Borussia am Borsigplatz zum Verkauf steht (und keinen Käufer findet), neigt der Dortmunder zu pietätvollem Schweigen.
Und van Marwijk hatte ja auch nicht Unrecht: Das fünfte Unentschieden der Borussia in Folge war tatsächlich anders als die vorhergehenden nicht dämlich, sondern glücklich. Durch Treffer von Marek Mintal und Robert Vittek lag der BVB erstens früh mit zwei Toren zurück, zweitens völlig verdient. Schon nach einer Viertelstunde hatte der Gast den elegantesten Angriffszug der gesamten Partie auf den Rasen gezaubert, der erst an den Fingerspitzen von Dortmunds Torwart Guillaume Warmuz endete. Danach traf Mintal die Latte und bot sich selbst Verteidiger Dominik Reinhardt eine feine Chance. Trotzdem kam Dortmund noch vor der Pause zum Ausgleich, da Jan Koller erst gegen drei Gegner einen Freistoß herausholte, den er selbst einköpfte, bevor er dann ein Zuspiel von Ewerthon technisch ansprechend verwertete. Da war die Stimmung im Stadion noch brauchbar, denn weil der BVB unter van Marwijk selten erfolgreich, aber fast immer unterhaltsam spielt, schien sich ein 4:4 oder 5:5 anzubahnen.
Doch wer genau hinsah, konnte bereits zum diesem Zeitpunkt Unterschiede ausmachen. So hatte van Marwijk, der höchst ungern wechselt, schon nach 36 Minuten Sunday Oliseh vom Feld geholt, weil der mit Mintal nicht zurecht kam oder es nicht wollte. Dede übernahm Olisehs Position vor der Abwehr, aber leider auch dessen Vorliebe für große Gesten und schlechte Pässe. „Nach diesem Tausch ist es besser geworden“, sagte van Marwijk, aber das stimmte nur bedingt. Die Mitte hatte der BVB geschlossen, aber auf den Flügeln brachte weiterhin jede flotte Aktion die Außenverteidiger in die Bredouille. Und das Angriffsspiel versandete, weil der nur bedingt einsatzfähig wirkende Tomas Rosicky so weit aufrückte, dass er die Pässe, die er eigentlich spielen sollte, selbst brauchte und nicht bekam.
So baute der BVB keinen Druck mehr auf, weshalb am Ende, trotz der Nuancen, alles beim Alten blieb: Das Ergebnis war ein Remis und Rosickys Reaktion auf die Frage, warum sein Team nicht gewinnt, ein charmanter Augenaufschlag und das der Situation angemessene: „Tja, was soll ich dazu sagen?“