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Archiv-Artikel

„Der Irakkrieg war für Europa eine Katharsis“, sagt Chantal Mouffe

Die postmoderne Theorie behauptet, dass Macht ortlos geworden ist. Weiß man das im Pentagon auch?

taz: Frau Mouffe, sind die USA ein klassisches Empire?

Chantal Mouffe: Lassen Sie mich so beginnen: Was seit dem 11. 9. passiert, zeigt, wie falsch Antonio Negri und Michael Hardt liegen. Sie haben in ihrem Buch „Empire“ ja die These vertreten, dass die neue imperiale Struktur völlig dezentriert ist, dass ein globaler imperialer Raum existiert, in dem die USA keine besondere Rolle spielen. Negri selbst hat in einer Diskussion einmal jovial gesagt: Ja, das Pentagon haben wir vergessen. Das ist keine Kleinigkeit, die man einfach so vergessen kann.

Heute wissen wir, wie wichtig die imperiale, militärische Macht der USA ist. Der Irakkrieg war der eigentlich erhellende Augenblick. Wir haben in Europa erkannt, dass die Richtung, in die die USA gehen, für uns nicht akzeptabel ist. Das war ein kathartischer Augenblick.

Und worin besteht die heilende Wirkung?

Ich habe kürzlich einen interessanten Text von Carl Schmitt gelesen mit dem Titel: Die Einheit der Welt. Ich war wirklich erstaunt. Dieser Aufsatz stammt aus der Zeit des Kalten Krieges. Es war Schmitt klar, dass dieser Zustand nicht halten würde und dass an dessen Ende ein unipolarer Moment stehen wird. Und er sagte voraus, dass diese Phase eine Epoche des internationalen Bürgerkrieges sein wird; dass in einer Welt ohne Außen Konflikte im Inneren gezüchtet und diese dann mehr und mehr den Charakter eines internationalen Bürgerkrieges annehmen werden.

Die Alternative dazu scheint mir eine multipolare Ordnung zu sein, die um große regionale Pole strukturiert ist, zu denen nicht nur die USA und die EU zählen. Das Nein Europas zum Irakkrieg war ein Schritt dorthin.

Was verstehen Sie unter multipolarer Ordnung? Birgt das nicht die Gefahr einer Rivalität der Mächte? Bräuchte Multipolarität, gewissermaßen als Vorbedingung, also alternative Politikmodelle?

Das ist genau der Punkt. Ein Europa, das wie Amerika wäre, aber einfach gegen Amerika, wäre unnütz … Die Rolle des Wohlfahrtsstaates, sozialdemokratische Werte, die zentrale Bedeutung sozialer Rechte – all das markiert die wesentliche Differenz zu den USA.

Es gibt aber auch in Lateinamerika Versuche, ein neues Selbstbewusstsein zu entwickeln – Lula ist faktisch zum Sprecher des globalen Südens geworden. Wie verträgt sich das mit der eurozentrischen Hoffnung, dass Europa zum großen Antipoden der USA wird?

Ich unterstütze diesen Einwand. In einer mulitpolaren Welt wird auch Europa nicht so tun können, als wäre es das Zentrum der Welt. Wofür ich plädiere, ist ein wirklicher Pluralismus. Wir müssen auch akzeptieren, dass unser Verständnis von Freiheit, die zentrale Bedeutung von Autonomie eine Besonderheit des „European Way of Life“ sind. Ich werde sie mit aller Kraft verteidigen. Aber wir sollten nicht glauben, dass sie die einzigen Lösungen für die Welt sind.

Das klingt sehr nach Relativismus: Menschenrechtsstandards ja, aber nicht jenseits der EU. Wie wollen Sie sich denn von einem solchen Relativismus, dem jeder asiatische Autokrat applaudieren würde, abgrenzen?

Man muss den Fehler des Relativismus vermeiden, mit Verweis auf Asian Values alles zu rechtfertigen. Wir müssen von einem Regime in jedem Fall eine minimale politische Moral fordern. Aber es muss auch Raum für Differenzen bleiben.

Nehmen wir nur das Beispiel der Menschenrechte. Fragen wir, was letztlich am Spiel steht im Zusammenhang mit den Menschenrechten. Die Anerkennung der Würde der Person. Wir formulieren diese Anerkennung mit den Vokabeln der Menschenrechte. Wenn man in einem anderen Kontext dieses Vokabular nicht findet, heißt das, dass diese Leute keine Idee von den Menschenrechten haben? Wir müssen ein transkulturelles Verständnis von Menschenrechten akzeptieren, anerkennen, dass sie auch anders formuliert werden können. Das heißt nicht, dass alles akzeptabel ist. Diese pluralistische Vision setzt sich also von der relativistischen ab – aber eben auch von der universalistischen, die vorgibt, es gäbe ein Konzept, das für alle passt; und die gleichzeitig anklingen lässt, dass all jene, die sie nicht teilen, eben noch nicht so zivilisiert sind wie wir Europäer.

Zurück zum Ausgangspunkt. Wie realistisch ist es, die USA herauszufordern?

Klar, ich bin nicht sehr optimistisch, dass wir eine pluralistische Vision kurzfristig verwirklichen können. Wenn wir aber nicht damit anfangen, werden wir nie so weit sein. Darum meine ich, dass wir in einem entscheidenden Moment leben. 2003 ist Europa zunehmend klar geworden, dass die europäische Identität in Abgrenzung zu der US-Hegemonie formuliert werden muss. Jetzt werden zumindest die richtigen Fragen aufgeworfen. Man versteht wieder, dass die Welt in Machtverhältnissen strukturiert ist und dass es einen Kampf gibt.

Freilich gibt es den Einwand, dass nationalstaatlich strukturierte Macht in der digitalisierten und vernetzten Welt ein Anachronismus ist.

Genau das bestreite ich. Genau diese Haltung bekämpfe ich – dieses Gerede von der reflexiven Modernität, das so tut, als wären alle Probleme nur das Resultat der „rückständigen Kräfte“, die bloß noch nicht vollständig ausgelöscht sind. Das ist einfach nicht wahr.

INTERVIEW: ROBERT MISIK