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Archiv-Artikel

Aufschwung jetzt!

Was die erste Hauptstadt-Popkomm ausgemacht hat, war der MoMA-Effekt. Endlos steht man in irgendwelchen Schlangen, irrt durch die Stadt auf der Suche nach dem ultimativen Thrill und endet völlig entkräftet am falschen, irgendwie langweiligen oder wenigstens desorganisierten Ort. Ein Resümee

Gerade mal 50 Mini-Aussteller mehr, und schon brodelt es. Optimismus!Geglückter Imagewechsel. Irgendetwas stimmt hier nicht

VON RALF NIEMCZYK

Die Popbranche, das manisch-depressive Luder! Vor wenigen Monaten noch ließ man angesichts weiter gesunkener Umsatzzahlen lautstark das Todesglöckchen bimmeln. Nun sitzen sie wie Phoenix aus der Asche an den Länderständen von Finnland, Frankreich, Großbritannien und verhandeln, als wäre es 1999. Projektleiterin Katja Bittner spricht bereits vor dem Kehraus der ersten Popkomm unter dem Funkturm von „tollen Signalen“, die gesetzt worden seien. Viva-Vorstandschef Dieter Gorny, der seine Erfindung nach expliziter Aufforderung von Tim Renner (Ex-Universal) und Balthasar Schramm (Ex-Sony-Music) von Köln an die Spree verklappt hatte, sieht wieder einen „echten Kommunikationsort“. Gerade mal 50 (Mini-)Aussteller mehr als im bitter beweinten Katastrophenjahr 2003, und schon brodelt es. Optimismus. Geschäfte ohne Ende. Geglückter Imagewechsel mit über 14.000 Teilnehmern. Irgendetwas stimmt hier nicht.

Das Geheimnis hinter dieser beflissen organisierten Aufschwungsinszenierung ließ sich am französischen Konzertabend mit Tahiti 80 und der niedlichen Punk- und New-Wave-Coverband Nouvelle Vague beobachten. Im Eingangsbereich des Frannz-Clubs, der neben acht anderen Spielorten zum offiziellen Festivalzentrum in der Kulturbrauerei gehörte, wird wild gedrängelt und debattiert. Niemand weiß so recht, wie mit den Akkreditierungen der Messegäste umzugehen ist. Selbst die Mitveranstalter vom Bureau Export haben Mühe, auf ihr eigenes Konzert zu kommen. Chaos pur. Ein Mann mit österreichischem Akzent erklärt dem Türsteher hysterisch, dass er die Welt der „Music Conventions“ von Midem bis Miami aus dem Effeff kenne. Nirgendwo sei er mit seinem Medienpass so schlecht behandelt worden. Der Mann hat keine Chance. Er trollt sich und setzt auf dem Treppenabsatz eine finale Rumpelstilzchen-Attacke gegen die unmöglichen Berliner Verhältnisse.

Und genau das ist es, was die erste Hauptstadt-Popkomm ausgemacht hat: der MoMA-Effekt. Man steht endlos in irgendwelchen Schlangen, irrt durch die Stadt auf der Suche nach dem ultimativen Thrill und endet völlig entkräftet am falschen, irgendwie langweiligen oder desorganisierten Ort. Gejagt von der schrecklichen Ahnung, dass es anderswo viel besser sein muss. Über 70 Prozent der Popkomm-Aussteller reisten aus dem Ausland an, wo man zwischen Kreuzberg und Friedrichshain das ultimative Szene-Walhalla vermutet. Eine Selffulfilling Prophecy, die zur Premiere alle Ungereimtheiten locker übertüncht.

Da wirken die Analysen des Holländers Maarten Steinkamp wie eine gemeine Brunnenvergiftung. Der künftige Europa-Chef des fusionierten Major-Labels Sony-BMG hat in alter Bertelsmann-Tradition keinen Popkomm-Stand gebucht und auch keinen „Beach Club“ vor irgendeinem Hyatt-Hotel hingeklotzt. Trotzdem ist er nach Berlin gekommen, um den letzten (?) Messeauftritt der Kollegen von Sony Music zu begutachten, die demnächst entweder rausgeschmissen oder nach München umziehen werden. In einer eigens angemieteten Bar in sicherer Entfernung zur Messe verweist er beim kleinen Empfang die angeblichen Popkomm-Geschäfte ins Reich der Simulation. Auch talentmäßig glaubt Steinkamp nicht an motivierte Nachwuchsbands, die im Messetrubel seine Artist-&-Repertoire-Leute mit ihren Demobändern bestürmen. So läuft das heute nicht mehr: „Wer für seine Arbeit so etwas wie eine Popkomm braucht, den schmeiße ich sofort raus.“

Skepsis im Krisenland Deutschland, wohl meinende Euphorie in der internationalen Community. In diesem Geist ist auch der Messeparcour strukturiert. Ohne die institutionellen Exportbüros der Popnationen Großbritannien und Frankreich bis hin zum tapferen Büdchen aus dem Baltikum wäre kein Flächenvolumen mehr zu stemmen. Eine flankierende Panel-Debatte über die Zukunft der Europäischen Kulturpolitik mit gleich elf Funktionären zeigt, dass die einst so selbstbewusste Musikbranche dem Weg der Filmszene folgt: Wo die Industrie auf dem Rückzug ist, müssen Staat und Politik die Leerstellen füllen.

Direkt im Eingangsbereich dokumentieren die Cebit-Gediegenheit ausstrahlenden Technologie-Stände von Net-M, OD2 oder dem Fraunhofer Institut, dass mit Rock ’n’ Roll künftig nur noch in digitaler Komprimierung ein nennenswertes Geschäft zu machen ist. Im krassen Gegensatz dazu steht der eigens eingerichtete „Labelpark“ für die kleinen Independents. Verbannt in die hinterste Ecke noch hinter dem plärrenden Interview-Holzverschlag von Radio Fritz wirken Strandstühle und Tischtennisplatte wie das Kinderland bei Ikea. Vielleicht hätte man für die aufrechten Enthusiasten noch eine Hüpfburg aufstellen sollen.

Dazwischen sucht man viele renommierte Adressen wie EMI, Virgin, Edel, V2, Ministry Of Sounds, Mute, Warp oder Sanctuary vergeblich. Einige von ihnen sind auf der „Premiummusic“ vertreten, die in einem Zelt am Leipziger Platz ein exklusives Abgrenzungskonzept verfolgt. Lizenzverhandlungen auf schicken weißen Ledersofas. Dazu prominente Crossover-Vorträge in Richtung Sport, Werbung und mobiles Entertainment. Schön gedacht, doch leider ist der Spaltungsprozess zur Popkomm längst noch nicht so weit, um einer „younger, sexier daughter“ (so die Selbstdarstellung) gleich im ersten Jahr genügend Kontakte für quirlige Ergänzungstage zum Messegeschehen zu bescheren. Dennoch besteht die Tendenz zum eigenen Ding. Berlin-Newcomer MTV bleibt auf der Popkomm außen vor und feiert lieber im Flughafen Tempelhof mit Kurzauftritten von Placebo und anderen Bands ihr Modeformat „Designerama“. Die neuen Fusionskollegen von Viva TV dagegen, die nach der Viacom-Übernahme von der baldigen Abwicklung bedroht sind, müssen in der Messe ihre ungewisse Stellung in einem Beduinenzelt halten.

Zum immer wieder beschworenen „Berlin-Faktor“ gehört zweifellos die neue Nähe zur Politik. Die Partei-Generalsekretäre Laurenz Meyer (CDU) und Klaus Uwe Beneter (SPD) erscheinen aufgrund einer namentlichen Abstimmung im Bundestag zu spät zur Polit-Pop-Debatte „Kuschelhartz 4.0: Die Erben der Scherben“. Angela Merkel spendiert im Funkturm-Palais einen abendlichen Imbiss. Wirtschaftsminister Clement dämpft die hoch gekochte Forderung nach einer Radioquote für deutschsprachige Musik mit einem Seitenhieb auf das „German Sounds“ benannte deutsche Pop-Förderbüro. Die NRW-Landesvertretung präsentiert die Toten Hosen vor 200 Fans, die der Kölner Radiosender Eins Live per „Luftbrücke“ eingeflogen hat. Auch die zahlreichen Empfänge in den Berliner Botschaften zeigen, wie weit die „Public-Private-Partnerships“ mittlerweile reichen: Fish-&-Chips-Party bei den Engländern. Nits-Legende Henk Hofstede singt in der Königlich Niederländischen Vertretung. Edle Häppchen und der Ausblick auf ein EU-Music-Office vom französischen Kulturminister Donnedieu de Vabres. Nur die rockigen Finnen verzichten auf Pomp und locken ihre Diplomaten zum Headbanging in den rustikalen „Magnet“-Club am Prenzlauer Berg.

Die erste Berliner Popkomm hat alle möglichen Register gezogen. Lieber zu viel als zu wenig. Bei gleich 50 Panels etwa ist nicht weiter aufgefallen, dass Apple-Vice-President Applications Eddie Cue seine schmissige Impulsrede zur Rettung der Musikindustrie bereits auf der Midem in Cannes inszenierte. Beim nachfolgenden „Digital Shoot-Out“ dürfen 15 Download-Syteme ihre Vorzüge anpreisen. „Musik & Marke“ versendet sich im Saal Stockholm. Dennoch ist die Botschaft klar: Hier ist was los. Und zwar „die gesamte Wertschöpfungskette des Musikgeschäfts“. Nach den blumigen Worten von Messechef Christian Göke sollte die neu formierte Popkomm einen „Schwingungskörper für die Branche“ bilden. Das ist in der stadttypischen Mixtur aus heißer Luft und echtem Engagement gelungen. Es blieb dem omnipräsenten Tim Renner überlassen, mit seiner Megasause zum zehnjährigen Jubiläum seines Labels Motor Music das symbolträchtige Highlight zu setzen. Freundlich finanziert von T-Mobile, staut sich die ganze Stadt fröstelnd vor dem Palast der Republik. Im entkernten Riesenbau bedanken sich Rammstein in Frauenuniformen mit einem Kurzauftritt für ihre einstige Entdeckung zur Weltkarriere. Über alldem funkelt eine gigantische Discokugel in Form eines Totenkopfs. Hell glitzernd, der Gruft vorerst entkommen.