: Versicherungen für die Ärmsten
Angesichts der Klimaveränderungen müssen dringend neue Wege gefunden werden, um von Naturkatastrophen betroffenen Menschen in den Entwicklungsländern zu helfen
Die Hurrikane, die in den letzten Wochen die Karibik und den amerikanischen Kontinent heimgesucht haben, führen es einmal mehr vor Augen: Angesichts der Klimaveränderungen müssen neue Wege gefunden werden, um von Naturkatastrophen betroffenen Bevölkerungen zu helfen. Besonders verheerend sind wetterbedingte Katastrophen für die ärmeren Länder: Für die Menschen dort ist bereits der Alltag ein Überlebenskampf. Nun sind sie auch noch vermehrt Verwüstungen durch Naturkatastrophen ausgesetzt.
Im vergangenen Jahr haben Naturkatastrophen weltweit über 75.000 Todesopfer gefordert und Schäden in Höhe von 60 Milliarden Euro angerichtet. Neun von zehn Katastrophen betrafen Entwicklungsländer, die große Mehrheit der Opfer verfügte über keinerlei Versicherungsschutz – denn in den Entwicklungsländern sind nur zwei Prozent aller Güter versichert, in den Industrieländern 60 Prozent. Das führt dazu, dass ganze Bevölkerungsteile in Schadensfällen in einen Teufelskreis geraten und sich ihre materielle Lage stetig verschlechtert. Ihr einziger Schutz vor dem Risiko besteht in humanitärer Hilfe.
Dafür ist Haiti wohl zurzeit das eindrücklichste Beispiel: Rund achtzig Prozent der etwa acht Millionen Einwohner verdienen weniger als 150 Dollar im Jahr. Sieben von zehn Haushalten sind von der Ernte ihrer Felder abhängig, was angesichts der durch die massive Abholzung verursachten Umweltschäden nicht einfach ist. Rund drei Prozent der Kinder sind chronisch unterernährt. Nach Monaten politischer Unruhen wurde Haiti im Mai dieses Jahres von katastrophalen Regenfällen heimgesucht. Rund 2.000 Menschen starben an Überschwemmungen und Erdrutsche.
Gleichzeitig bewirkte eine Dürre im Nordwesten des Landes einen erheblichen Ernteausfall. Vor zwei Wochen fegte der zerstörerische Hurrikan „Jeanne“ über die westliche Küstenregion. Bis zu drei Meter hohe Schlammmassen rissen rund 1.500 Menschen in den Tod und zerstörten große Teile der Stadt Gonaives. Die Überlebenden haben meist all ihr Hab und Gut verloren. Sie können nicht auf die Unterstützung der Regierung zählen. Die einzige Hilfe kommt von humanitären Organisationen wie etwa dem UN-Welternährungsprogramm WFP, das seit Anfang der Krise bereits 170 Tonnen Nahrungsmittel verteilt hat.
Doch das weltweite Bedürfnisse nach humanitärer Hilfe ist viel größer. Im vergangenen Jahr verteilte das WFP Lebensmittel an über 100 Millionen Menschen. Viele waren Opfer von Dürren und Überschwemmungen, etwa die 14 Millionen Äthiopier, die ihre Ernte wegen Trockenheit verloren hatten. Angesichts der ungünstigen Wetterbedingungen wird im Rahmen des WFP auch dieses Jahr in Äthiopien sowie in anderen Ländern Afrikas, in Asien und in Mittelamerika Hilfe geleistet.
Auch wenn es bezüglich der Ursachen der gegenwärtigen Klimaveränderungen unterschiedliche Ansichten gibt, so besteht kein Zweifel darüber, dass die internationale Gemeinschaft heute vor einer Herausforderung ungekannten Ausmaßes steht. Laut Münchner Rück fanden in den Neunzigerjahren dreimal mehr Naturkatastrophen statt als in den Sechzigern. In ihrem letzten Lagebericht geht die größte Rückversicherungsgesellschaft der Welt davon aus, dass angesichts der Klimaveränderungen mit einer weiteren Zunahme zu rechnen ist – und dass der Aufwand für den Versicherungsschutz dadurch weiter steigen wird.
Wie die Versicherungsindustrie, die alles unternimmt, um sich an die veränderte Lage anzupassen, muss sich auch die internationale Gemeinschaft den neuen Herausforderungen stellen. Nur so ist künftig eine Hilfe möglich für die Millionen von Menschen, die mit den Auswirkungen von Naturkatastrophen nicht selbst fertig werden. Ein genaues wissenschaftliches Verständnis der Klimaveränderung und der Zunahmen von Naturkatastrophen ist den Opfern weit weniger wichtig als das Wissen, dass sich die internationale Gemeinschaft um die menschlichen Konsequenzen solcher Ereignisse kümmert.
Die Anpassung an die neue Risikosituation wird dadurch erschwert, dass die internationalen humanitären Organisationen infolge von Naturkatastrophen und menschenverursachten Verheerungen ihre Kapazitätsgrenzen erreicht haben. Es müssen also neue Wege gefunden werden, um mit den künftigen Schäden fertig zu werden.
Beim G-8-Gipfel in Evian im vergangenen Jahr wurde beschlossen, die Einführung einer Versicherung zu prüfen, die vor dem Risiko Hunger schützen soll. Basierend auf modernster Technologie, etwa der satellitengestützten Wetterüberwachung, und dank leistungsfähiger Finanzinstrumente wie Wetterderivate und Katastrophen-Anleihen, die in den Industrieländern heute bereits gebräuchlich sind, soll ein Risikomanagement-System geschaffen werden, welches die gefährdeten Bevölkerungsgruppen vor Verlusten durch wetterbedingte Schäden schützt.
Wetterderivate erlauben es, finanzielle Mittel für die Hilfe bei Hungersnöten aufzubringen, während Katastrophen-Anleihen dazu dienen, bei Naturkatastrophen die Schäden zu decken, die die Kapazitäten der Versicherungen übersteigen. Für die Absicherung gegen Hungersnöte könnten Weltbank und WFP auf Finanzmarkt-Derivate zurückgreifen, deren Wert an einen Index gebunden ist. Dieser könnte auf Messwerten von erdbasierten Messstationen oder von satellitengestützten Überwachungssystemen beruhen. Beim Unterschreiten eines bestimmten Grenzwertes würden automatisch finanzielle Mittel freigesetzt, welche das WFP für die Nothilfe einsetzen könnte.
Ein solches System würde die gegenwärtige Situation grundlegend verändern: Das Risiko hätten nicht mehr die von den Katastrophen betroffenen Familien zu tragen, sondern humanitäre Organisationen wie das WFP oder die Entwicklungshilfe im Rahmen der Weltbank – und damit im Endeffekt deren Geldgeber. An den Letzteren würde es demnach liegen, die ärmsten Bevölkerungsgruppen der Welt vor den schlimmsten Risiken durch Naturkatastrophen zu schützen: den materiellen Schäden, welche oftmals zu Hungersnöten führen. In Katastrophenfällen würden unverzüglich finanzielle Mittel freigesetzt, um die Hilfsoperationen der humanitären Organisationen zu ermöglichen.
Voraussetzung für die Verwirklichung dieser Idee ist eine innovative Partnerschaft zwischen Regierungen, Hilfswerken der Versicherungsbranche und dem Finanzsektor. Die Risiken, denen arme Menschen in Entwicklungsländern ausgesetzt sind, müssten als Versicherungsproblem verstanden werden. Die Versicherungslösung würde es erlauben, das Know-how und die Ressourcen des Finanzsektors und der Versicherungsbranche zu nutzen, um die hilfsbedürftigsten Bevölkerungsgruppen zu schützen. Damit könnten diese sich etwas unbelasteter ihrer produktiven Tätigkeit, der Erziehung ihrer Kinder, kurz, der wirtschaftlichen Entwicklung zuwenden. JAMES T. MORRIS