: Zukunft beginnt auf der Schulbank
Weil es in NRW keine Schulpflicht für Flüchtlingskinder gibt, haben viele Roma einen „normalen“ Kinderalltag mit Schule, Lernen und Spielen nie kennengelernt. Jetzt gibt es in Köln das Schulprojekt „Amaro Kher“ – und die Roma-Kids sind begeistert
Von Thomas Spolert
Es ist etwas eng auf dem Flur. Ein paar Kinder toben über den Gang, an der Eingangstür der Baracke am Venloer Wall lehnt eine Jugendliche und raucht. „Wir warten auf den Alphabetisierungslehrer“, erklärt Marlene Tyrakowski das Tohuwabohu. Die Historikerin und Sozialpädagogin ist die Leiterin des Projekts „Amaro Kher“, das seit drei Wochen in Köln Roma-Kindern Schulunterricht bietet.
Rund 2.500 Romakinder leben nach Angaben des Rom e.V. in Köln. Die Flüchtlingskinder unter ihnen unterliegen bisher keiner Schulpflicht. Im Kölner Schulprojekt „Amaro Kher“ werden künftig bis zu 60 auffällige Kinder und Jugendliche aus Problemfamilien betreut, um sie später in Regelschulen eingliedern zu können. Amaro Kher ist Romanes und heißt übersetzt „Unser Haus“. Dieses Haus soll künftig neben dem Schulprojekt auch ein kleines Kulturzentrum werden. Mit Festen, Filmen und anderen kulturellen Veranstaltungen sollen die Roma hier ihre Kultur pflegen können.
Derzeit kommen jeden Tag zehn bis 15 Schüler in die sehr beengten Räume am Venloer Wall, um lesen und schreiben zu lernen. „Wir brauchen dringend größere Räume“, beklagt Projektleiterin Tyrakowski den Platzmangel. Jeden Morgen werden die Kinder, die in ihrer Mehrzahl noch nie eine Schule besucht haben, mit einem kleinen Bus aus verschiedenen Kölner Flüchtlingsheimen abgeholt. Und es werden täglich mehr. „Die Kinder bringen ihre Geschwister oder andere Kinder aus dem Heim mit“, erklärt Tyrakowski den unerwarteten Zuwachs. Manchmal kommen sogar Straßenkinder von selbst in die Schule. „Die wollen wir natürlich nicht wegschicken.“ Einige der Roma-Kinder sprechen kein Wort Deutsch. Daher will die Projektleiterin sich dafür einsetzen, dass die SchülerInnen auch eine Sprachlehrerin bekommen.
„Vorher habe ich nur Fernsehen geguckt oder bin mit Freundinnen spazieren gegangen“, erzählt Bebi von ihrem bisherigen Alltag. Die 14-Jährige besucht das erste Mal in ihrem Leben eine Schule. „Es hat sich viel für mich geändert“, sprudelt es aus Jennifer heraus. Sie ist wie ihre Mitschülerinnen begeistert von der Schule. Lesen und Schreiben machen Spaß, aber besonders große Freude bereitet den Mädchen das Tanzen, das zwei Mal in der Woche stattfindet. Für die Jungs startete diese Woche erstmals ein Boxtraining. Für alle zusammen gibt‘s dann noch Nachhilfe in Hip-Hop von einem Roma-Jugendlichen. „Ab nächste Woche können die Schüler in ihrer Freizeit auch noch EDV-Kurse besuchen“, berichtet Projektleiterin Tyrakowski.
Während die älteren Schüler noch auf ihren Alphabetisierungslehrer warten, sind die Jüngsten eifrig dabei, Buchstaben und Zahlen zu lernen. „Bitte nicht gehen! Ich will weiter machen!“ hört Christoph Schulenkorf täglich von seinen Schützlingen. Der Sonderschullehrer ist fasziniert von der Wissbegierde seiner I-Dötze. Am liebsten wollen die Kleinen gar keine Pausen machen. Ein Kollegin unterstützt Schulenkorf zweimal die Woche ehrenamtlich. Eigentlich könnte Larissa Peifer-Rüssmann ihren wohlverdienten Ruhestand genießen. „Ich habe von diesem Projekt gehört und wollte was dafür tun“, begründet sie ihr freiwilliges Engagement für die Flüchtlingskinder.
„Für die Kleinen ist die Schule ganz wichtig“, erklärt Schulenkorf. Sie kennen bisher nur die räumliche Enge mit sieben bis acht Leuten auf einem Zimmer im Flüchtlingsheim. Eine Kinderwelt sei ihnen bisher verschlossen gewesen. Hier können sie spielen und lernen. Dabei wird es manchmal zwar ein bisschen chaotisch, wenn die Kinder mitten im Unterricht aufstehen und herumlaufen: „Aber das gehört einfach dazu“. Alles in allem hätten die Kinder ein ziemlich normales Sozialverhalten. Dies ist um so erstaunlicher, als sie teils „heftige persönliche Geschichten“ mitbringen, wie Schulenkorf weiß. Gerade deshalb sei das Roma-Schulprojekt aber auch so wichtig: Viele der Kinder bekämen hier zum erstem Mal etwas Halt und Orientierung. „Die fahren auf Regeln ab.“