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Archiv-Artikel

Die Straßen sehen aus wie Kunst

Mehr als zwanzig Jahre nach ihrer kurzen Blütezeit erlebt New Yorker No-Wave-Szene der frühen Achtziger gerade eine Renaissance. Keiner anderen künstlerischen Bewegung gelang so konsequent die Vermittlung von Pop- und Hochkultur wie der Downtown-Avantgarde und ihrer Punk Art

von ANDREAS BUSCHE

Ein Fernseher explodiert auf einem verwaisten Parkplatz. Ein Mann hebt einen Ziegelstein vom Asphalt auf und schmeißt ihn seelenruhig in eine Windschutzscheibe. Eine Gruppe von Männern schwärmt mit Besen bewaffnet aus und schlägt eine Schneise in die aus Müll errichtete Nachbarschaft. So beschrieb ein Zeitzeuge vor einigen Jahren in der New Yorker Village Voice den „alltäglichen Surrealismus zwischen den Avenues C und D“ Ende der Siebziger. Er hätte, schrieb er, eine Schwäche für die ausgebrannte Stadtlandschaft gehabt, aber auch gewusst, dass sich dieser Zustand nicht mehr lange halten würde. Die Front der Grundstücksspekulanten verglich er mit einer Krabbe, die sich langsam in Richtung East Village bewegte.

Die Kaputtheit New Yorks war für die verstreuten Künstlerkolonien Ende der Siebzigerjahre ungeheuer inspirierend: eine riesige Stadtlandschaft, deren kulturelles Branding erst noch bevorstand. Es war schließlich eine kleine Gruppe von kulturellen Outsidern und Dropouts, die Downtown New York ihr Siegel aufdrücken sollte. In dem Szene-Film „New York Beat“ von 1980 (2001 unter dem Titel „Downtown 81“ erstmals veröffentlicht) spricht der Graffiti-Popstar Jean-Michel Basquiat vom East Village als einer „Wild Frontier“. „Ich war frei, aber die Stadt war es nicht. Lower East Side sah aus wie ein Kriegsgebiet, als hätten wir eine Bombe über unseren Köpfen abgeworfen.“ Und kurz darauf: „Die Straßen sehen aus wie Kunst.“

Die osmotische Beziehung von Stadtraum und Kultur-Produktion gehört zu den ersten Gründermythen der New Yorker Avantgarde-Szene der späten Siebziger. 1979, so die Legende, konnte man als Künstler im East Village mit einer Drei-Tage-Arbeitswoche noch gut über die Runden kommen. Das Punk-Feeling der Entfremdung war dem Straßenbild selbst eingeschrieben, und es war keineswegs ein rein ästhetisches Empfinden, aus dem sich dieses Lebensgefühl speiste: Man fand es auf den Dancefloors der Downtown-Nachtclubs wie auch in den Low-Key-Galerien des East Village oder auf den HipHop-Blockparties in der South Bronx – und in den arrivierten Punkclubs wie dem CBGB’s und dem Max’s sowieso.

Die Vision des Melting Pot hatte sich längst als falsche politische Propaganda entpuppt. Anfang der Achtziger rappte Grandmaster Flash in „The Message“ von New York als einem Dschungel, in dem man als Schwarzer ständig „close to the edge“ lebe. Und James Chance verglich den Disco/Funk-Punk seiner Band The Contortions mit „Dschungelmusik“ – als weißer, pervertierter Variante. Das Molochartige der Metropole diente unterschiedlichsten Lebensmodellen für ihr abgefucktes Selbstverständnis. So ließ es sich ganz ausgezeichnet leben.

Die zwischen 1978 und 1982 in Manhattans East Side ansässige Avantgarde-Szene kultivierte diesen bohemitischen Existenzialismus bis zu ihrem frühzeitigen Exitus mit einer auch für heutige Verhältnisse hypertrophen Produktivität. Beginn und Ende dieser kurzen Epoche lassen sich kaum verbindlich festmachen. Als verlässliche Eckdaten könnte die Veröffentlichung der von Brian Eno initiierten „No New York“-Compilation und die Eröffnung des Mudd Clubs 1978 dienen sowie die bahnbrechende „New York/New Wave“-Ausstellung im P.S.1 im Jahr 1981, die den Kunstboom im East Village auf ihrem Höhepunkt erfasste und gleichzeitig den Ausverkauf der Downtown-Szene besiegelte. Zu diesem Zeitpunkt, 1981, hatte sich der Fokus vom avantgardistischen Noiserock der No-Wave-Musiker James Chance, Arto Lindsay und Glenn Branca bereits auf die Produktion von kunstmarkttauglichen Images verschoben, wirkungsvoll auch als „Punk Art“ (später auch Neo-Expressionismus) gelabelt.

Man muss fast ein schlechtes Gewissen haben, wenn heute ein Haufen von Wiederveröffentlichungen über 20 Jahre alter Platten – Produkte der Kulturindustrie mit anderen Worten – als Entschuldigung dafür herhalten muss, wieder über ein Randphänomen der Avantgarde zu sprechen, das sein Programm seinerzeit so radikal antikommerziell und antiinstitutionalistisch vertreten hat. Aber nicht nur dass Alben wie „Buy Contortions“ von James Chance and the Contortions (erschienen bei 4 Men With Beards) und „The Ascension“ von Glenn Branca (Allegro Corporation) von ernst zu nehmenden Musikkritikern heute trotz ihrer eher marginalen Rolle in der Musikgeschichte zu den wegweisenden Rock-Alben gezählt werden und die gerade veröffentlichte Compilation „New York Noise“ (Soul Jazz) den bisher kompetentesten Einblick in die Downtown-Szene zwischen „No New York“ und Disco-Punk liefert.

Der Begriff „No Wave“ (und mit ihm auch sein Synonym „Downtown“) hat in den letzten Monaten auch durch Bands wie The Rapture, Yeah Yeah Yeahs, Erase Errata oder The Faint eine Renaissance erfahren, und es ist sicher kein Zufall, dass ein amerikanisches Major-Label ausgerechnet jetzt eine New-York-Compilation mit dem programmatischen Titel „Yes New York“ (Warner) veröffentlicht.

Von den Protagonisten der kurzen Blütezeit der Downtown-Avantgardeszene haben nur wenige Namen überlebt: Zu ihnen gehören neben Jean-Michel Basquiat, Keith Haring und Robert Longo, die Performance-Künstlerin Laurie Anderson, aus dem „No New York“-Umfeld Arto Lindsay und Lydia Lunch, der Filmemacher Amos Poe und die Modedesignerin Maripol. Über die entschiedene Initiative einer ganzen Künstlerkolonie ist dagegen kaum noch etwas bekannt. Generische Bezeichnungen wie „No Wave“, „Downtown“ oder „Punk Art“, die Anfang der Achtziger auf den Kultur-/Musikseiten von Village Voice über SoHo Weekly bis New York Times ausführlich diskutiert wurden, besitzen schon lange keine Definitionsmacht mehr.

Für was genau aber standen diese Begriffe im Kunstdiskurs Anfang der Achtziger? In seinem Buch „Popular Music and the Avantgarde – Between Montmartre and the Mudd Club“ (Chicago University Press, 400 Seiten, 20 Dollar) bezeichnet der Kulturkritiker Bernard Gendron die künstlerischen Praktiken der Downtown-Avantgarde als „Borderline-Ästhetik“. Keiner anderen künstlerischen Bewegung, nicht einmal der Pop Art der Sechziger, sei die Vermittlung von Hoch- und Popkultur so konsequent gelungen wie dem klassisch geschulten Glenn Branca mit seinen symphonischen Notationen für neun E-Gitarren oder Keith Haring mit seinen hyperaffirmativen Trashkultur-Collagen.

„Borderline“ war konsequenterweise auch die Wahl der Aufführungsorte: Die Rockmusik tendierte kurzzeitig zur Galerie (obwohl Branca und sein Kollege Rhys Chatham immer wieder betonten, dass ihre Musik in einen schwitzigen Rockclub gehöre), während die Kunst in die neuen Nachtclubs mit ihren hippen „Art after Midnight“-Veranstaltungen abwanderte.

Der 1978 gegründete Mudd Club bildete nur die Vorhut einer neuen, populistischen Happening-Kultur, die sehr schnell die gut betuchten Kunst-Yuppies aus den umliegenden Stadtteilen ins „Global East Village“ lockte. Als der Mudd Club 1983 seine Pforten schloss, wurden für die „Punk Art“ der Mudd-Club-Stammgäste Basquiat, Haring und Kenny Scharf schon sechsstellige Summen hingeblättert.

Tatsächlich bleibt „No Wave“ doch die vielleicht letzte – und kommerziell am wenigsten erfolgreiche – Nische eines längst überlebten Achtziger-Revivals. Die archäologische Arbeit an dem, um hier Basquiats oben bereits erwähnte Semidokumentation zu zitieren, „Downtown 81“-Komplex fängt mit dem Begriff „No Wave“ allerdings gerade erst an. Die Bandbreite des ästhetischen Ausdrucks reichte gleichberechtigt vom neurotischen Kreischen der „No New York“-Bands DNA und The Contortions über Basquiats frühe Street Art unter dem Künstler-Pseudonym „Samo“ bis hin zu Amos Poes minimalistischen Proto-Punk/„Alphaville“-Existenzialismen und Maripols New-Wave-Design (und jeder von ihnen bekam in „Downtown 81“ seine/ihre fünf Minuten). In diesem Kreise sollte auch Andy Warhol sein allerletztes Comeback erleben.

Die wichtigste Antriebskraft dieser Downtown-Künstlergeneration war interessanterweise die strikte Verbundenheit mit ihrem home turf. Innerhalb weniger Jahre konnte so eine autarke Infrastruktur mit Clubs, Galerien (bzw. deren Mischformen) und eigenen Zentralorganen wie dem Kulturteil der Village Voice und der berüchtigten „Glenn O’Brien’s TV-Party“ im Kabel-Nachtprogramm entstehen – was eine beispiellose inzestuöse Produktivität zur Folge hatte. Im Dezember 1981 bemerkte der „Downtown“-Hofberichterstatter Rene Ricard im Kunstmagazin Artforum dann auch leicht spöttisch, dass nach dem Boom von Kollektivausstellungen wie der Times Square Show und New York/New Wave eine Einzelausstellung fast etwas asozial wirken musste.

Das Phänomen der „Downtown 81“-Szene sollte auch deshalb nicht in Vergessenheit geraten, weil die Wechselwirkung von kultureller Produktion und Stadtentwicklung selten so verheerende Folgen nach sich gezogen hat. In seinem Buch schreibt Gendron, dass die neuen Popstars der Kunstszene und ihr High/Middlebrow-Massenkultur-Gefolge maßgeblich für die Ver-Yuppisierung des East Village verantwortlich gemacht worden sind. Gendron nennt sie die „Avantgarde der Gentrifizierung“ – kurz darauf folgten die Ärzte und Anwälte.

Wenige Jahre zuvor war mit solchen Eindringlingen noch ganz anders umgesprungen worden. 1978 hatte sich James Chance in einem Interview lautstark über die „blasierten New Yorker Arschlöcher“ ausgelassen: „Sie denken, sie können da sitzen und sich alles anhören, ohne dass es sie irgendwie beträfe. Also entschied ich mich, über die Musik hinauszugehen – und sie physisch zu attackieren.“