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Archiv-Artikel

Kein kastrierter Kater

Francis Fukuyama entdeckt den Staat. In einem ebenso klugen wie furiosen Traktat plädiert er für leistungsfähige Institutionen, die sich auch gegen wirtschaftliche Interessen durchsetzen können

VON WARNFRIED DETTLING

„Bringing the State back in“, den Staat wieder ins politische und gesellschaftliche Spiel zurückbringen – so könnte man einen neuen politischen Trend beschreiben. Wie zuvor die Deregulierungs- und die Privatisierungswelle springt er aus der angelsächsischen Debatte nach Europa über. Francis Fukuyama hat nun ein gescheites theoretisches Traktat und ein leidenschaftliches Plädoyer für die Wiederentdeckung des Staates geschrieben. „Die Schwäche von Staaten ist ein nationales wie ein internationales Problem ersten Ranges“, so schreibt er. „Für einzelne Gesellschaften wie für die globale Gemeinschaft führt der Verfall des Staates nicht nach Utopia, sondern in die Katastrophe.“

Bereits in den gemäßigten Zonen dieser Welt kann man leicht die Probe aufs Exempel machen: Haben wir, in Deutschland zum Beispiel, einen starken oder einen schwachen Staat? Um die Frage vernünftig beantworten zu können, erweist sich seine einfache, aber weitreichende Unterscheidung Fukuyamas als hilfreich: er differenziert zwischen der „Reichweite“ oder der „Bandbreite“ eines Staates und seiner „Stärke“ oder „Kapazität“, also seiner „Fähigkeit, Politik zu planen und durchzuführen, und Gesetze sauber und transparent durchzusetzen“.

Es sind nicht nur Entwicklungsländer, die oft alles wollen und wenig können, auch Deutschland schneidet auf diesen beiden Dimensionen von Staatlichkeit ganz unterschiedlich ab: allzuständig und überreguliert, aber schwach und hilflos, wenn es um die Eigenheimzulage oder die Entfernungspauschale geht, von einem besseren Bildungswesen ganz zu schweigen. So wird der Staat einem kastrierten Kater immer ähnlicher: aufgedunsen, aber impotent.

Fukuyama plädiert dagegen für leistungsfähige staatliche Institutionen, die sich gegen wirtschaftliche und gesellschaftliche Interessen durchzusetzen vermögen, er plädiert für einen starken, nicht jedoch für einen allzuständigen Staat. Denn: die Schwäche von Staaten sei Ursache vieler Übel – von Armut und Aids über Drogen und Terrorismus bis hin zur Verletzung von Menschenrechten. An der Spitze der nationalen wie internationale Agenda müsse deshalb die Aufgabe stehen, starke Staaten zu bauen.

Die Fruchtbarkeit seiner zentralen These erweist sich schon darin, dass sie ganz unterschiedliche Problemfelder zu erklären und Hinweise zu Problemlösungen zu geben vermag. Das Ende des Kalten Krieges hinterließ eine Reihe schwacher Staaten im Balkan, im Kaukasus und anderswo. Nach dem 11. September haben die USA die doppelte Erfahrung gemacht, dass aus gescheiterten Staaten Gefahren für die eigene Sicherheit erwachsen, Institutionen aber nicht einfach in andere Länder wie Irak oder Afghanistan transferiert werden können. Staaten von außen zu bauen ist eine schwierige, wenn nicht gar unmögliche Angelegenheit.

Aber man kann, so Fukyama, Fehler vermeiden, falsche Strategien erkennen oder wenigstens sensibel sein für die Dialektik ungewollter Nebenwirkungen. Was er damit meint, zeigt er am Beispiel des Kampfes gegen Aids. Diese Krankheit wirft zum einen ein Ressourcenproblem auf: Es müssen ausreichend Medikamente zu einem erschwinglichen Preis zur Verfügung stehen. Zum anderen aber müssen die Regierungen „Kapazitäten für Gesundheitsprogramme“ haben. Eine wirksame Behandlung setzt eine funktionierende Infrastruktur des Gesundheitswesens, Aufklärungskampagnen und epidemiologisches Fachwissen voraus. „Will man die Epidemie bekämpfen, muss man folglich den betroffenen Ländern helfen, die institutionellen Kapazitäten zum richtigen Einsatz der dann noch immer erforderlichen Ressourcen aufzubauen.“

Staatliche Entwicklungspolitik und Hilfsorganisationen wählen freilich oft den kürzeren und scheinbar erfolgreichen Weg. Sie führen Gesundheits-, Bildungs- und andere Programme mit einem Heer von ausländischen und abgeworbenen einheimischen Experten in eigener Regie durch. Damit wird ungewollt der Aufbau leistungsstarker staatlicher Institutionen im Bildungs- und Gesundheitswesen untergraben, die jedoch für eine nachhaltige Entwicklung dieser Länder ganz und gar unentbehrlich sind. Die Parallelen zu manchen Widersprüchen in entwickelten Wohlfahrtsstaaten liegen auf der Hand.

Fukuyama schreibt gegen den weltweiten Trend an, „den Staat zu schwächen“. Insofern ist dieses Buch ein ideenpolitisches Ereignis ersten Ranges. Das gilt auch dann, wenn die Grenzen seiner Argumentation nicht zu übersehen sind. Der an Hegel geschulte Staatsdenker Fukuyama erwartet eher wenig von Nichtregierungsorganisationen (NGOs) und der Zivilgesellschaft. Der Gedanke, dass eine Wiedergewinnung von Staatlichkeit auch eine „Repolitisierung der Politik“ mit sich bringen muss, wenn sie sich nicht auf Verwaltungshandeln beschränken soll, bleibt ihm ziemlich fremd.

Etwas undifferenziert setzt er auf das Konzept des „souveränen Nationalstaates“ und auf die Notwendigkeit der „traditionellen militärischen Machtausübung“, auch wenn er weiß, dass beide heute nicht mehr für alle Zwecke ausreichen. Den Multilateralismus und die Integration der Europäer respektiert er von Ferne, ohne darin doch recht eigentlich Wege zur Stabilisierung einst verfeindeter Regionen erkennen zu können. Die neueren Debatten, wie man staatliche Ziele und politische Steuerung auf indirekte und doch wirksame Weise erreichen kann – erwähnt sei nur das Stichwort: Good Governance–, erwähnt er eher nur beiläufig.

Trotz alledem: Fukuyamas schmales Bändchen „Staaten bauen“ gehört ohne Zweifel zu den wichtigsten politischen Sachbüchern in diesem Herbst. Analytisch in der Methode, stark in der Aussage, fruchtbar in seinen Konzepten, die die aktuellen internationalen Probleme besser verstehen lassen. Zudem ist es noch gut und meistens anschaulich geschrieben. Wer sich die Mühe macht, die theoretischen Passagen durchzuhalten, wird durch einen reichen Erkenntnisgewinn belohnt.

Man möchte das Buch allen empfehlen, die Politik lehren, machen oder interpretieren. Vor allem einer verunsicherten Linken könnte es helfen, den Diskurs über nicht einfach mehr oder weniger, sondern eine wirksame und intelligente Form von Staatlichkeit neu zu beleben. Gerade weil die Linken immer ein Gespür dafür hatte, dass Staatlichkeit notwendig ist, müssten sie eigentlich die Ersten sein, die staatliche Wucherungen und Metastasen thematisieren – und kritisieren.

Francis Fukuyama: „Staaten bauen. Die neue Herausforderung internationaler Politik“. Aus dem Englischen Hartmut Schickert. 192 Seiten, Propyläen Verlag, Berlin 2004, 20 Euro