: Ruckelnde Eier im Staub
Völlig mitleidslos: „Die Dialektik der Übergangsperiode von Nirgendwoher nach Nirgendwohin“, das neue Buch des jungen russischen Starautors Viktor Pelewin. Eine erfahrungsgesättigte Rezension
VON WLADIMIR KAMINER
Liebe Leserinnen, liebe Leser, ich möchte Ihnen hiermit ein neues Buch des russischen Schriftstellers Viktor Pelewin empfehlen. Korrekt übersetzt sollte es „DÜNN“ heißen, obwohl es mit fetten 348 Seiten alles andere als dünn ist. In der russischen Originalausgabe trägt dieses Werk den Titel „DPP(NN)“ – eine Abkürzung für „Die Dialektik der Übergangsperiode von Nirgendwoher nach Nirgendwohin“ – „DÜNN“ auf Deutsch. Als begeisterter Pelewin-Leser kenne ich alle seine bisher veröffentlichten Texte, über mehrere Bücher von ihm habe ich bereits geschrieben. Eigentlich fälllt mir zu seinem neuen Buch nichts Neues ein, weil es bei Pelewin wie bei jedem Schreibarbeiter, der seine Arbeit ernst nimmt und nicht nur windig mit Buchstaben um die Gunst des Lesers jongliert, immer um das Gleiche geht: um die Tragödie des Lebens.
Nun kenne ich aber den Redakteur, der mir den Auftrag gab, erneut über Viktor Pelewin und sein neues Buch zu schreiben, schon seit vielen Jahren, er ist ein äußerst sympathischer Mensch, außerdem mein Nachbar und ein Arzt! Also „Dünn“. Das neue Werk des Schriftstellers besteht aus einer „Elegie 2“, einem Roman, einem kurzen wissenschaftlichen Aufsatz und zwei Erzählungen, die alle irgendwie zusammenhängen, was einem jedoch erst am Ende des Buches klar wird. Nein, es sind sogar drei Erzählungen, und nicht alle sind miteinander verbunden. Fast alle wurden von einem Superübersetzer namens Andreas Tretner ins Deutsche übertragen. Ich habe beide Fassungen gelesen: Die deutsche ist noch besser als das Original – innovativ und durchgeknallt. Sie wurde gefördert, so steht es auf der Innenseite des Titelblattes, vom Literarischen Colloquium Berlin, mit Mitteln des Auswärtigen Amtes und der Senatsverwaltung für Wissenschaft, Forschung und Kultur. Wow!
Hier ein kurzer Überblick für alle, die noch nie was von Pelewin gelesen haben: Er ist einer der bekanntesten Autoren der postsozialistischen russischen Literatur, eine lebende Legende. Über keinen anderen Autor streiten sich die Kritiker so heftig wie über ihn, den Mann in Schwarz, „der niemals seine dunkle Brille ablegt“. Die einen nehmen ihn als Geschwür auf dem Körper der russischen Literatur wahr, die anderen sehen in ihm einen Hellseher, der als Einziger einen kristallklaren Blick auf die russische Gegenwart wirft.
Im Internet zirkulieren ständig unheimliche Geschichten über ihn. Einer prahlt dort, dass er mit Pelewin zusammen in einem buddistischen Kloster in Südkorea Leichtathletik getrieben habe. Ein anderer war angeblich mit ihm zusammen in China – auf der Suche nach magischen Teeblättern, die an einem sakralen Ort wachsen und jedem, der sie findet, eine übermenschliche Sehkraft verleihen. Auch behauptet man, Pelewin sei längst tot, deswegen auch zu seiner Preisverleihung nicht erschienen, und das neue Buch habe sein Verleger aus alten Texten zusammengestoppelt. Alles Blödsinn. Der Schriftsteller Pelewin lebt – und schreibt weiter über Zen, psychedelische Drogen, das Internet, Massenmedien, Veränderungen des Bewusstseins und die Entwicklung des wilden Kapitalismus in Russland.
Sein Lieblingsthema ist jedoch ein für die russische Literatur sehr traditionelles: Die Entlarvung der so genannten Realität. Seinen Helden gelingt es immer wieder, die stumpfe Pappe ihrer Lebensdekoration zu durchstoßen und durchzublicken. Manchmal treiben sie dafür Leichtathletik, manchmal müssen sie dafür sterben, aber noch öfter nehmen sie den einfachen Weg – mit Drogen, Pilzen oder anderen bewusstseinsverändernden Substanzen – und schwups, sind sie drüben. Das, was sie dann sehen, spendet keinen Trost.
Jede neue Realität, die Pelewin aufrollt, ist grausamer als die vorherige. Zum einen erscheint nun seinen Helden ihre vorherige Welt unverhüllt – als ein vollgekachelter Toilettenraum oder eine Scheißkugel oder ein dunkler U-Bahn-Schacht oder als die schwarze Wüste Walhallas. Dort, am kalten Fegefeuer, sitzen in der Schlacht gefallene Kriegsveteranen und werden von einem bösen Gott schikaniert. Sie müssen alle ein blödes Lied auswendig lernen, um endlich die Wüste verlassen zu dürfen und in die Ewigkeit einzugehen.
Kennt man Pelewins Bücher, so will man erst gar nicht wissen, wie diese Ewigkeit aussieht. In seinem neuen Buch „DÜNN“ kennt der Autor abermals kein Mitleid mit seinen Helden. Sie alle werden leiden und sterben, alles, woran sie geglaubt haben, wird sich als Selbstbetrug erweisen und ihre Realität als ein bloß bemalter Pappkarton. Die wahre Welt dagegen wird zu einem angemessenen Zeitpunkt, auf der letzten Seite der letzten Erzählung nämlich, dem Leser vorgeworfen: so düster wie noch nie zuvor. Unbedingt lesen, mindestens die letzte Seite! Zitat: „Dunkel. Ringsum, bis zum Horizont dehnte sich Steinwüste. Einzelne glänzende Stiele ragten darin auf, unter denen längliche lederhäutige Eier im Staub lagen, die ab und zu ein wenig ruckelten.“
Wegen dieser Ledereier brach bei uns in der Familie eine literarische Diskussion aus. Meine Frau fand sie ekelhaft und den neuen Roman auch. Ich fand gerade die Eier, die eigentlich Schlüsselfiguren dieses Buches sind, sehr überzeugend. Mehr noch, ich glaube sogar zu wissen, wie diese im Staub sich wälzenden Eier zustande kamen.
Einmal kam Pelewin auf Einladung des Literarischen Colloquiums oder des Auswärtigen Amtes oder wem auch immer nach Berlin. Er hatte eine Lesung in der Buchhandlung Starick am Rosenthaler Platz, genau an dem Tag, an dem wir im Kaffee Burger eine Russendisko veranstalteten. Der Buchhändler erzählte Pelewin davon und so kam es, dass die lebende Legende nach der Lesung am Tresen im Kaffee Burger saß und seine Blindenbrille nicht abnahm, obwohl man im Burger auch ohne Brille kaum etwas sieht. Pelewin hatte aber anscheinend sein drittes Auge aktiviert und tippte fehlerfrei einer netten Brünetten auf die Brust. Diese sagte: „Oh, sind sie nicht der Schriftsteller Pelewin?!“. – „Ja, Mäuschen“, sagte Pelewin, „wollen wir? Ich wohne hier um die Ecke in einem Hotel.“ Die Brünette kniff. Der Schriftsteller gab nicht auf, Er baggerte die kahlrasierte Freundin eines uns gut bekannten Drogendealers an, und zwar mit der alten russischen Masche: „Du Kleine, soll ich deinen Namen erraten?“. – „Ja, mach das“, sagte die Freundin, die aus Kasachstan kommt und Nasgir heißt – also eine harte Nuß für jeden Hellseher. „Olga? Lena? Maria?“, versuchte der Schriftsteller und wurde jedes Mal heftig ausgelacht.
Danach verkaufte ihm der Dealer auch noch zum dreifachen Preis einige überlagerte LSD-Pillen sowie ein paar verschmutzte Aspirin als Speed. Beide freuten sich über den Deal. Und aus dieser trostlosen Schriftsteller-Realität heraus kam das erschreckende Bild zustande: Alle Mädels waren weg, nur einige große, lederhäutige Eier ruckelten noch müde im Staub herum: „Ein langgezogener Klagelaut flog über die Wüste dahin, einem Hilferuf ähnlich oder einem Stöhnen, erfüllt von Mitleid mit den für immer verlorenen Seelen.“ Schrecklich. Grausam. Ich leide mit.
Viktor Pelewin: „Die Dialektik der Übergangsperiode von Nirgendwoher nach Nirgendwohin“. Aus dem Russischen von Andreas Tretner, Luchterhand Verlag, München 2004. 348 Seiten, 22,50 Euro