: Chor der Erinnerung
Der libanesische Autor Elias Khoury hat mit „Das Tor zur Sonne“ eine große Saga über die Vertreibung und das Schicksal der Palästinenser nach der Staatsgründung Israels im Jahr 1948 geschrieben
von EDITH KRESTA
Khalil ist Krankenpfleger im Palästinenserlager Shatila im Libanon. Am Krankenbett seines väterlichen Freundes Junes, einem Veteran des palästinensischen Befreiungskampfes, erzählt er ihrer beider Leben. Der Roman „Das Tor zu Sonne“ des libanesischen Autors Elias Khoury ist ein breit angelegtes Epos. Es ist die Geschichte von Frauen und Männern, die Nahostpolitik am eigenen Leib erlebten. Es zeichnet das Leben dreier palästinensischer Generationen nach, die mit der Gründung Israels 1948 aus ihren Dörfern vertrieben wurden und nun ihr Leben in überfüllten Lagern fristen müssen.
Khoury selbst, obwohl kein Palästinenser, hat in den Lagern gelebt und gearbeitet, um die Gefühle der Menschen und die Atmosphäre dort zu verstehen. Er hat die Menschen interviewt und ihre Sprache und Erinnerungen der Vertreibung aufgezeichnet. Stellenweise wirkt der Roman daher wie ein Mitschnitt von Erzählungen, bei dem die psychologische Feinzeichnung der Figuren zuweilen verloren geht – die unterschiedlichsten persönlichen Erfahrungen werden da in seitenlanger Ich-Erzählung mittels der Erinnerungen des Krankenpflegers Khalis wiedergegeben. Khourys Roman ist so wiederum ein vielstimmiger Chor der Erinnerung, ein Mosaik aus Lebenserfahrungen.
Dazu lässt Khoury seinen Khalil aber auch immer wieder die Frage stellen, inwieweit die Geschichten von Junes, die des Befreiungskampfes und die der Liebe zu seiner Frau Nahila, nicht auch geschönt und verklärt sind. Aber gerade in der Liebesgeschichte zwischen Junes und Nahila, die sich immer am Tor zur Sonne heimlich trafen, blitzen Hoffnungsschimmer auf. Eine Hoffnung, die neben der Liebe auch Familie und Dorfgemeinschaft beschwört, die ländliche Tradition der Palästinenser. Das Tor zur Sonne als Symbol des kurzfristigen Glücks. Für den Krankenpfleger und ehemaligen PLO-Kämpfer Khalil ist diese Tradition jedoch nur noch Legende, genauso wie der palästinensische Befreiungskampf.
Khalil ist ein Kind des Lagers, des zerstörten Beiruts, eines zerrissenen Palästina. Er ist gebrochen und bar jeder Selbstgewissheit und Illusion. Seine eigene Liebesgeschichte mit Schams findet anders als die von June und Nahila an ihrem Tor zur Sonne nirgendwo Erfüllung. Khalil wird auf brutale Weise von seiner Geliebten verlassen. Auch das Schicksal von Shams, der Freiheitskämpferin, ist die moderne weibliche Facette der tödlichen, inneren Zerrissenheit vieler Lagerbewohner.
Gerade deshalb verschmilzt Khalils eigene Geschichte mit der seines Freundes Junes, so dass Khalil beständig zwischen Identitätsverlust und Identitätssuche schwankt. Khalil hält sich an Junes und dessen Palästina-Legende fest. Er kann den Freund, der nach einem Hirnschlag im Koma liegt, nicht loslassen. Er klammert sich manisch an ihn. Wunderbar beschreibt Khoury diesen Gemütszustand am Ende des zweiten Bandes, kurz vor Junes’ Tod, als Khalils Traum von einer Frau mit den Fotoporträts Nahilas in Junes’ Wohnung verschmilzt. Der Verlust von Junes ist auch das Ende einer Geschichte. Und dieser Geschichtsverlust wird die Ödnis des Lagers und die Ödnis Khalils eigener Existenz steigern. „Aber ich habe keine andere Wahl, denn ich bin in diesem Labyrinth geboren worden, genau wie du … Unsere Maske ist der Krieg. Und selbst der Krieg reicht nicht mehr, um den Strudel aufzuhalten, der uns in die Tiefen zieht. Sie und Wir. Wie du siehst, kommt das Sie inzwischen dem Wir gleich. Und das Wir kommt dem Sie gleich. Wir haben nun kein anderes Gedächtnis mehr“, gesteht Khalil seine Verzweiflung.
Die Perspektive und Identität der Einzelnen sind längst im Strudel des Nahost-Konflikts erstickt. Die Sinnhaftigkeit des Krieges ist abhanden gekommen. Khourys umfangreicher Roman hat eine eindeutige Sicht: Es ist die Erfahrung der Palästinenser in den Lagern. Khoury möchte, dass dieses Leiden nicht in Vergessenheit gerät: „Die palästinensische Sache ist gerecht, weil es die Sache eines Volkes ist, das unter Besatzung lebt und das Recht hat, einen unabhängigen Staat zu gründen“, hat er in einem Interview gesagt. Dennoch findet man in dem Roman immer wieder Verweise auf das Leid der anderen Seite. Etwa wenn die alte Palästinenserin in ihr Dorf zurückkommt und das Leid der Israelin, die nun das Haus der Palästinenserin bewohnt, hört.
Elias Khoury, 1948 in Beirut geboren, ist einer der bekanntesten Intellektuellen seines Landes, ein aktiver politischer Beobachter und Literat. Er studierte Soziologe und entwickelte sich seit Mitte der Siebzigerjahre vom militanten PLO-Kämpfer zu einem der bedeutendsten Autoren der arabischen Gegenwart. Khoury engagiert sich gegen die Diktatoren in arabischen Ländern, schreibt gegen den Mangel an Zivilgesellschaft in der arabischen Welt an, kämpft für die Sache der Palästinenser und verurteilt die Selbstmordattentate.
So präzis die Sprache seiner Erzählungen aber sein mag, so schwierig ist es dem Labyrinth, der ineinander verwobenen Lebensgeschichten in „Das Tor zur Sonne“ zu folgen. Die Technik der rückblickenden Erzählung gibt zwar die enge Durchdringung und Beeinflussung von Vergangenheit und Gegenwart wieder, aber die fragmentarischen Erzählungen und die verschlungen Wege der Erinnerung machen es nicht leicht, dem Fluss der Geschichte zu folgen. Stramme 742 Seiten am Krankenbett des Befreiungskämpfers Junes fordern zudem viel Geduld und Durchhaltevermögen.
Elias Khoury: „Das Tor zur Sonne“. Aus dem Arabischen von Leila Chammaa. Klett-Cotta, Stuttgart 2004. 742 Seiten, 25 Euro