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Archiv-Artikel

Morgen war gestern

Ein Abgesang auf das Genre der Science-Fiction-Literatur: William Gibson erzählt in seinem Roman „Mustererkennung“ von der neoromantischen Sehnsucht nach neuen, sinnstiftenden Erlebnissen

VON KOLJA MENSING

Cayce Pollard ist allergisch gegen Markenprodukte. Beim Anblick einer Handtasche von Louis Vuitton verspürt sie Übelkeit, das Logo von Tommy Hilfiger löst bei ihr Panikattacken aus, und das Michelin-Männchen bringt sie in schlechten Momenten bis an den Rand eines Kollapses.

Im Zeitalter des Brandings ist das natürlich ein gewisses Handicap. Cayce ist es allerdings gelungen, aus ihrer Überempfindlichkeit Kapital zu schlagen. Ihre Fähigkeit, auf den ersten Blick die Erfolgsaussichten einer neuen Werbekampagne beurteilen zu können, hat sie zu einer gut bezahlten „Wünschelrutengängerin in der Welt des globalen Marketings“ gemacht. Sie kann sich vor Aufträgen kaum retten. Alles wäre perfekt, wenn ihr persönliches Schicksal nicht eng mit den Twin Towers verbunden wäre, den mittlerweile wohl prominentesten Markenzeichen des westlichen Kapitalismus. Cayces Vater ist während der Anschläge auf das World Trade Center spurlos in den Straßen von New York verschwunden und schließlich für tot erklärt worden.

Mit seinem neuen Roman „Mustererkennung“ ist der US-Autor William Gibson in der Gegenwart angekommen, in der allerjüngsten Vergangenheit, im Sommer 2002. Das allein ist bemerkenswert, beruht doch Gibsons bisheriger Erfolg als Schriftsteller vor allem auf äußerst treffsicheren Aussagen über die Zukunft. 1984 hatte er sein Science-Fiction-Debüt „Neuromancer“ veröffentlicht. Gibson entwarf darin eine virtuelle Welt, die durch den Zusammenschluss einzelner Computer geschaffen wurde und aus heutiger Sicht eine verblüffende Ähnlichkeit mit dem Internet hatte. Unter dem von Gibson geprägten Schlagwort „Cyberpunk“ etablierte sich in den Achtziger- und Neunzigerjahren eine ganze Subkultur von Science-Fiction-Autoren, Hackern und Netz-Künstlern, und zuletzt nahmen seine Ideen Einfluss auf extrem erfolgreiche Mainstream-Produkte wie die „Matrix“-Trilogie.

Insgesamt hat sich die Faszination, die vom Cyperpunk ausging, jedoch abgenutzt. Zu viel von dem, was einmal Zukunft hieß, ist längst Gegenwart geworden, und wenn man sich heute an literarischen Prognosen hinsichtlich technischer Spielereien versucht, tritt man in Konkurrenz zu den Entwicklungsabteilungen von Sony oder Apple.

Morgen war gestern, das ist sozusagen der philosophische Ausgangspunkt von Gibsons neuem Roman. „Wir haben keine Zukunft mehr, weil unsere Gegenwart unbeständig ist“, sagt Hubertus Bigend, einer der Auftraggeber von Cayce: „Das einzige was uns bleibt, ist Mustererkennung.“ Bigend gehört zu den ganz Großen in der Werbebranche, und Gibsons ernüchternde und zeitgemäße Pointe besteht also zunächst darin, dass nicht mehr Schriftsteller oder bildende Künstler im unübersichtlichen Raum der Gegenwart nach Geschichten und Bildern suchen. Trendscouts, Coolhunter und Campaign Manager erledigen diese Aufgabe mit „viralem Marketing“ und anderen Methoden sehr viel effizienter.

Gleichzeitig geht der Roman jedoch davon aus, dass die Nachfrage nach nicht ganz so flüchtigen Botschaften steigt – auch weil der 11. September mit seinen sich wiederholenden Fernsehbildern, widersprüchlichen Zeitungsberichten und Verschwörungstheorien zu einem Ereignis geworden ist, dass sich den kulturellen Strategien der Mustererkennung entzieht. So tauchen im Internet nach und nach Fragmente eines geheimnisvollen Films auf, die von einer gar nicht mal so ganz kleinen Fangemeinde geradezu kultisch verehrt werden. Während die „Clipheads“ glauben, dass in den rätselhaften Filmausschnitten eine tiefere Bedeutung verborgen liegt, erregt das Phänomen auch die Aufmerksamkeit von Bigend, der darin „die brillanteste Marketingstrategie dieses jungen Jahrhunderts“ sieht – und Cayce auf die Suche nach den Ursprüngen des „Clip-Kults“ von London aus erst nach Tokio und dann nach Moskau schickt. Sie stößt dabei auch auf Hinweise, die das Verschwinden ihres Vaters erklären könnten, aber das ist nicht wirklich wichtig.

„Mustererkennung“ lebt nicht von einer raffinierten Handlung, und für komplexe Charaktere oder überraschende psychologische Einsichten war William Gibson noch nie bekannt. Spannend ist dieser etwas spröde Zeit- und Ideenroman vor allem, weil er vor dem digitalen Hintergrundrauschen des frühen 21. Jahrhunderts von der neoromantischen Sehnsucht nach neuen, sinnstiftenden Erlebnissen erzählt, die irgendwo zwischen der Begeisterung der Clipheads für ein paar liebevoll geschnittene und zeitlos ausgestattete Filmsequenzen und Hubertus Bigends halb begeisterter, halb zynischer Bemerkung liegt, dass uns „unser kostbares kleines Jetzt“ erst durch die einstürzenden Twin Towers wiedergegeben wurde: „Als sie zusammenbrachen, haben wir geblinzelt und gezittert und sind in den Augenblick zurückversetzt worden.“

Erfreulicherweise spielt William Gibson mit solchen pathetischen Erkenntnissen, ohne selbst pathetisch zu sein. Dabei hätte er eigentlich jeden Grund dazu. Am 11. September 2001 hatte er bereits 100 Seiten eines neuen Manuskripts fertig. Er hat sie dann verworfen, um „Mustererkennung“ zu schreiben, einen Roman, der nicht zuletzt ein Abgesang auf das Genre der Science-Fiction-Literatur ist. Von morgen erzählen war gestern.

William Gibson: „Mustererkennung“. Aus dem Amerikanischen von Cornelia Holfelder-von der Tann und Christa Schuenke. Klett-Cotta, Frankfurt, Stuttgart 2004. 460 S., 24,50 Euro