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Archiv-Artikel

Kennzeichen Nachträglichkeit

Bücher, die „Geboren am 13. August“ oder „Sommer 1990“ heißen, Abrechnungen mit den 68ern, das Schicksal von Widerstandskämpfern in der Nazi-Zeit und deren Witwen in den Fünfzigerjahren: Die deutsche Gegenwartsliteratur erkundet so massiv wie lange nicht die jüngere deutsche Geschichte

VON GERRIT BARTELS

Jens Bisky sieht das nüchtern. „Es gab den 9. November 1989, und so ein historisches Ereignis erfährt man höchstens ein-, zweimal im Leben. Da ist es normal für einen Autor, dass er sich für Geschichte interessiert und sie darstellen will.“ Spricht’s und wundert sich, dass junge Autoren, da sie sich bei der Auswahl ihrer Stoffe verstärkt der deutschen Geschichte bedienen, mit dem Vorwurf der Erfahrungsarmut konfrontiert werden.

Bisky sitzt in einem Café im Prenzlauer Berg, steht Rede und Antwort zu seinem Buch „Geboren am 13. August. Der Sozialismus und Ich“ (Rowohlt Berlin) und hat sich darin selbstredend des 9. Novembers 1989 erinnert. Von der Öffnung der Mauer erfährt er nach der Premiere des Films „Coming Out“ im Ostberliner Kino International. „Nun hat auch die DDR ihr Coming Out“, zitiert er eine Freundin, wohl wissend, dass für ihn der Mauerfall und die Premiere des DDR-Schwulenfilms von Heiner Carow eine seltsame zeitliche Überblendung darstellen: Jahrelang lebte Bisky in der DDR ein Doppelleben in der Schwulenszene Ostberlins und bei der NVA, wo er sich für vier Jahre als Unterleutnant verpflichtet hatte.

Ein Leben, das sich aufdrängte, aufgeschrieben zu werden. Und ein Buch, das gut passt in einem Bücherherbst, in dem die deutsche Gegenwartsliteratur sich massiver denn je dem Erkunden und Poetisieren historischer Epochen wie den Zeiten nach 1945, 1968 und 1989 sowie ihrer Wirkung auf den einzelnen verschrieben hat.

Nun ist Jens Bisky bisher nicht als Literat in Erscheinung getreten und sein Buch keine Belletristik, sondern die Autobiografie eines 38-jährigen Feuilletonredakteurs der Süddeutschen Zeitung. Doch setzt es die Arbeit junger Autoren aus dem Osten von Peter Richter bis Jana Hensel fort, die seit Jahren versuchen, ihre Position zwischen zwei Systemen zu markieren, zwischen Kindheit und Jugend in der DDR und dem Erwachsenwerden im wiedervereinigten Deutschland. Nur dass Bisky nicht der Versuchung erliegt, sich zum Sprecher einer Generation zu machen und schön beim Ich bleibt und dabei nur selten einmal Wir meint. Biskys Buch passt auch deshalb, weil beim Erforschen der Vergangenheit die Gattungen schwer durcheinander geraten sind und sich Sachbuch, Belletristik und dokumentarische Literatur aufs innigste miteinander verschränken. Was auch seinen Sinn hat: Reale historische Ereignisse, gerade wenn sie der Motor von Büchern sind, lassen sich nur schwer literarisch elegant darstellen. Gelungene belletristische Bücher wie Dieter Fortes dunkle Zeitreise in die Fünfzigerjahre und Terézia Moras schöner Roman „Alle Tage“ bestätigen als Ausnahmen die Regel (siehe die Seiten 2 und 8 dieser Beilage).

Auch der 34 Jahre alte Marko Martin hat, nachdem er 2000 mit einem Berlin-Roman debütiert hatte, gerade ein Buch vorgelegt, das man am ehesten als „Bericht“ bezeichnen könnte. Allein der Titel ist, wie bei Bisky, vielsagend schmucklos: „Sommer 1990“ (DVA). Martin, der im Mai 1989 als Kriegsdienstverweigerer aus der DDR ausgebürgert wurde, erzählt von seinem Wiedersehen mit Berlin, Chemnitz und Leipzig im Sommer 1990, von Wiederbegegnungen mit Freunden und Bekannten, und seinen Gedanken dabei. „Sommer 1990“ ist der Bericht eines jungen Mannes, der innerhalb von zwei Jahren drei unterschiedliche Länder kennengelernt hat: ein Land in Agonie, die DDR, die selbstzufriedene alte Bundesrepublik und ein notdürftig wiedervereinigtes Land. Das Besondere ist, dass der Text auf Tagebuchaufzeichnungen Martins von 1990 basiert und so genauso authentisch wie frei von ostalgischen Verklärungen ist.

Martin schreibt in einem Nachwort, entstanden sei der Text damals aus dem Bedürfnis, „einer zusammengebrochenen Diktatur noch die eigenen, weniger anklagenden als beschreibenden, Worte hinterherzurufen, um quasi per Entzauberungsspruch eine Rückkehr des staatlich verordneten Schweigens zu verhindern und sich selbst von einer Last zu befreien“. Jens Bisky wiederum nennt „Ärger“ als einen Grund für sein Buch. Ärger darüber, dass die DDR im Zuge der Ostalgiewelle als hauptsächlich putzige Angelegenheit erscheint: „Der Sozialismus war für Anhänger wie Gegner eine ernste Sache, manchmal eine todernste. Ich bin keine putzige Figur. Ich will als normale Figur akzeptiert werden, die Dinge erlebt hat, die andere nicht erlebt haben.“

Während Bisky Geschichtsverfälschungen stören und Martin versucht, ein Land loszuwerden, das er so leicht nicht loswird, haben ihre im Westen sozialisierten Kollegen andere Probleme mit der Geschichte. Da sie 1989 nicht so sehr aus ihrer Welt und ihrem Trott gerissen wurden, arbeiten sie sich bevorzugt an einer Zeit ab, in der auch viel von „Revolution“ die Rede war: an 1968 und den Folgen. Gerhard Seyfried etwa, der in „Der schwarze Stern der Tupamaros“ von den linken Splittergruppen der Siebzigerjahre erzählt und dabei mehr dokumentarischen Eifer an den Tag legt, als dass er sich als großer Romancier erweist. Sophie Dannenberg mit ihrer böswilligen Parodie auf die 68er-Generation, „Das bleiche Herz der Revolution“. Kein Roman, sondern eine Kolportage, eine Ansammlung von Bizarrerien. Gerade im Springer-Hochhaus in Berlin vermochte das Buch hellste Freude auszulösen, doch eingeschnappt war auch mancher 68er – so als wären die Welt und Zeit stehen geblieben. Und Dannenberg ist es total ernst: Das Buch beschreibe, hat sie im Deutschlandradio gesagt, „1968 als Einbruch der Barbarei“.

Dann ist da noch Jakob Arjouni, der nicht weniger unzimperlich die 68er behandelt. Die Hauptfigur seines Romans „Hausaufgaben“ (Diogenes) ist der Deutschlehrer Linde, dessen Welt aus den Fugen gerät: Von einer Schülerin wird er nach einer Deutschstunde, in der anmerkt, wie schwer es für Nachgeborene sei, dem „großen Nazitopf“ zu entkommen, der Leugnung des Holocaust verdächtigt; seine Frau befindet sich in der Psychiatrie; mit der Tochter ist der Kontakt abgebrochen, der Sohn liegt nach einem Unfall im Koma. Höhepunkt allen Unbills sind Vorwürfe seiner Frau, die Tochter sexuell missbraucht zu haben. Per E-Mail informiert sie Lindes Kollegium darüber und beschert ihm eine Anhörung, bei der es um seinen Verbleib an der Schule geht.

Das Perfide an Arjounis schmalem Roman ist, dass er viele schwierige, politische Themen anreißt, sie in ihrer Komplexität aber nicht zu begreifen versucht. Dazu ist Linde ein wahrhaft hornochsiger 68er: verständnisvoll, bemüht um ein kumpelhaftes Verhältnis zu seinem Sohn, Fan des Buena Vista Social Clubs und von Seyfried-Comics, die ihn einst selbst auf die Idee eines Comics mit den „frechen Hippieschülern Fool und Funky“ brachten. Hart am Klischee, dieser Mann, aber rhetorisch so gewandt, dass er den Kopf aus der Schlinge zieht. „Hausaufgaben“ ist ein überladener Roman, hat aber in dem Alt-68er Linde einen der zwielichtigsten, armseligsten Helden in der jüngeren deutschen Literatur.

Dass 1968 ein folgenreiches Jahr war, beweist auch Friedrich Christian Delius mit seinem neuen Roman „Mein Jahr als Mörder“ (Rowohlt Berlin), wo von Verklärung gleichfalls nichts zu spüren ist: „Was mich abstieß, war mehr als das übliche Wettpinkeln der Revolutionäre […], wenn die Wortführer des Aufruhrs […] sich gegenseitig mit immer radikaleren Formulierungen und Ideen überboten. Ohne Scheu, den Weg, den sie gestern noch als einzigen zum revolutionären Heil gepriesen hatten, heute als reformistisch und revisionistisch zu verteufeln“. Hier zeichnen sich Seyfrieds Siebzigerjahre ab, Sven Regeners K-Gruppen-Endstadium, und so gibt es für Delius’ Helden und Ich-Erzähler Wichtigeres zu tun: Er will den Tod des 1944 hingerichteten Widerstandskämpfers Georg Groscourth sühnen, den seinerzeit ein Richter verurteilte, der wiederum 1968 von seinen Nazi-Verbrechen freigesprochen wird. Und Delius’ Held erzählt auch die Geschichte der Witwe Groscourths, die in den Fünfzigerjahren in die Mühlen des Kalten Krieges gerät.

Delius verbindet gleich drei Epochen deutscher Geschichte. Bisweilen aber wirft sein hüftsteifer Roman die Frage nach der Motivation auf, sich des Schicksals der Groscourths anzunehmen. So sehr der Umgang mit Anneliese Groscourth ein bezeichnendes Licht auf die Fünfzigerjahre wirft, so sehr hat man auch den Eindruck, dass eine Zeitungsreportage gereicht hätte. So stellt sich mit diesem Roman noch mal die Frage nach dem Grund der Massierung dieser semiliterarischen Erkundigungsreisen: Ob es eine neue Unsicherheit des Ichs ist, das in der Medienwelt zerrieben wurde, wie manche meinen? War nicht das Ich immer ein unsicherer Ort?

Eher scheint die Wiedervereinigung den Blick nun endgültig freigegeben zu haben gerade auch auf die bundesrepublikanische Geschichte. Als hätte es Zeit gebraucht, die Dinge behandeln zu können – auch die Popliteratur mit Christian Krachts „Faserland“ als Initiation 1995 wirkte ja wie ein Nachholen der Achtzigerjahre. Als erfülle sich jetzt, was schon 1989/1990 vielerorts erwartet wurde: eine Repolitisierung, der nachhaltige Einbruch der Geschichte auf den Alltag des Einzelnen, was sich aber aus Gründen der Verdrängung erst in Totalkonstruktionen der Gegenwart niederschlug.

Der Büchner-Preisträger Wilhelm Genazino, dessen Romane viel von den Fünfziger- und Neunzigerjahren erzählen, ohne dass die Geschichte im Vordergrund stehen würde, hat dazu gesagt: „Das besondere Kennzeichen von Literatur ist ihre Nachträglichkeit. Immer wieder wird Vergangenheit mit gehörigem zeitlichem Abstand bearbeitet, denn nur Abstand bringt Distanz und Reflexion hervor. Literatur ist eben ein Modus der Geschichtsverarbeitung.“