Alle Wörter sind schon da

Angst und Entfremdung in Amerika: In seinem neuen Film „Land of Plenty“ schreibt Wim Wenders eine zentnerschwere Botschaft in die viel zu dünne Luft – ohne Vertrauen in die dem Kino eigene Gabe, mit Bildern Wirklichkeit zu bezeugen

VON EKKEHARD KNÖRER

Auf den ersten Blick strukturiert die Bewegung einer Annäherung den Film: Lana (Michelle Williams), die gläubige Christin aus Israel, sucht ihren Onkel Paul (John Diehl), der sich als paranoider ehemaliger Vietnamkämpfer und selbst ernannter Hilfssheriff gegen das terroristische Böse erweisen wird. Sie ist im Flugzeug zu sehen, er in seinem schrottreifen Überwachungswagen. Eine Begegnung der Elemente Luft und Erde, aber auch von christlicher Zuversicht und Verfolgungswahn.

Lana und Paul treffen sich, nachdem der Film sie eine ganze Weile sich selbst überlassen hat, in einer Obdachlosenunterkunft mitten in L.A., einem Ort der Einsamen, Hungernden, Zurückgelassenen. Als vor der Eingangstür ein Pakistani erschossen wird, beginnen Lana und Paul Nachforschungen, er aus Paranoia, sie aus Mitleid. Sie erfahren, dass der Bruder des Toten in einem Kaff namens Trona, Kalifornien, lebt. Sie suchen es auf, es erinnert stark an Paris, Texas. Sie trinken schlechten Wodka beim herzensguten Pakistani. Erst in der Weite der amerikanischen Landschaft, in denkbar großer spiritueller Ferne zu L.A., kommt es zum Gespräch zwischen Onkel und Nichte. Der Dialog aber, der in naiver Leitartikelmanier den Hass der Welt auf Amerika reflektieren will, wird eingeleitet durch eine Kamerabewegung, die mit einem eine Weile gehaltenen Blick durch die Bäume in den Himmel, in die Sonne beginnt. Dann schwenkt die Kamera langsam von oben nach unten, vom Himmel zur Erde, von der Transzendenz zur Realität, wie der Film sie sich vorstellt. Freilich vertraut Wenders weniger dem Bild als dem Text, will nicht sehen, sondern erklären, will nicht hören, sondern sprechen, will nicht analysieren, sondern glauben.

Mit dieser ersten vertikalen Kamerabewegung, die etwa die Mitte des Films markiert, korrespondiert eine zweite, entgegengesetzte. Sie ist Antwort und Endpunkt des Films, der letzte Schwenk, das letzte Bild. Lana und Paul haben die USA durchquert, von West nach Ost, von LA nach New York. Rasant ist diese Fahrt, ein Road-Movie-Konzentrat, dem jedoch alles fehlt, was das Road Movie ausmacht. Man denke an Vincent Gallos so viel schöneren Film „The Brown Bunny“ (in Deutschland leider noch immer ohne Verleih), der einen durch Trauer Verstörten zeigt und die äußere Bewegung durch das Land als innere begreift. In der Endlosigkeit der Dauer und der Bewegung erschließt Gallo fast wortlose Bilder von Verlust und Trauer. Wenders’ Bildern dagegen sind die Wörter immer schon voraus.

Das wirkliche Amerika, den realen Raum zwischen West- und Ostküste, durcheilt und durchrast er, verknappt ihn zum eindeutigen Zeichen: „Land of Plenty“, Verlust der Unschuld. Noch die Musik von Leonard Cohen, die darunter gelegt wird, ist so illustrativ wie manipulativ. Zur Verdeutlichung bleibt in die Bilder der flotten, nur wenige Minuten dauernden Fahrt von Paul und Lana die amerikanische Flagge eingetragen, die Paul an seinem Auto angebracht hat. Von Minute zu Minute wird sie fadenscheiniger: eine schwere Metapher von „Angst and Alienation in America“ (so der Arbeitstitel des Films).

In New York stehen die beiden dann am Nullmeridian aller aktuellen USA-Diskurse, über Ground Zero. Nicht am Touristenzaun, sondern auf einem Hausdach, das kein gewöhnlicher Sterblicher betreten darf, also bereits erhöht über den normalen Blick auf den zentralen Ort von 9/11. Von diesem Hausdach aus schwenkt die Kamera des Films nun höher und höher, lässt Ground Zero unter und hinter sich. Eine Bewegung von der Erde zum Himmel, von der Realität zu Gott, bis der dunkelblaue Himmel die Leinwand füllt und zur Projektionsfläche wird für die Botschaft des Films, die dann buchstäblich in den Himmel zu schreiben der um faustdicke Peinlichkeiten dieser Art nie verlegene Wenders sich keineswegs scheut: „The Truth Some Day“.

Wim Wenders’ neuer Film ist ein Road Movie, sein Ort aber kein reales, sondern ein durch und durch allegorisches Amerika. Anders als in den frühen und sehr schönen Filmen (man denke nur an „Alice in den Städten“) ist für die eigentliche Bewegung und für den Blick auf die Orte, den Raum, die Zeit, die Stadt kaum mehr Platz. Die Orte wie die Figuren werden mit Botschaften plakatiert: vom Verlust der Unschuld, vom Vietnam-Trauma, das sich wiederholt, vom Glauben, der die Erlösung des Ruhelosen verspricht. Die Figur des Paul ist dabei nicht mehr und nicht weniger als eine Allegorie der USA: im Herzen gut, aber schwer geschädigt durch das Trauma Vietnam; erneut getroffen durch die Anschläge vom 11. September und in absurde Terrorismus-Paranoia getrieben.

In der Figur des Paul entschuldigt Wim Wenders das neokonservative Amerika durch die Unterstellung, es wisse nicht, was es tut. Noch in der aggressiv gewendeten Paranoia steckt ein Unschuldskern, der durch liebende Zuwendung der Errettung fähig ist. Verkörperung dieser liebenden Zuwendung ist Lana. Sie tritt im Film an die Stelle des Filmemachers Wenders, der seine geliebte zweite, aber spirituell erste Heimat USA durch eine Geste des Verzeihens und Mitleidens erlösen will. Diese Geste ist es, die „Land of Plenty“, so klein der auf Digitalvideo gedrehte Film daherkommt, so schnell und spontan er entstanden ist, schließlich doch zum Dokument des Größenwahns macht.

„Land of Plenty“ wird zum Road Movie, in dem die Vertikale dominiert, nicht die Horizontale – und ist deshalb ein Road Movie nur noch zum Schein. Das tatsächliche Amerika interessiert Wim Wenders so wenig wie die Kraft des Kinos, Wirklichkeit zu bezeugen in einem nur dem Film eigenen Blick. Wenders’ Blick ist nicht der des Kritikers, sondern der des Missionars, „Land of Plenty“ ein Erbauungstraktat, das Wirkmittel rafft und in den Dienst der Boschaft stellt. Zu diesen Wirkmitteln gehören die oft eindrucksvollen digitalen Videobilder des jungen Kameramanns Franz Lustig ebenso wie die melancholieverhangenen Balladen von Leonard Cohen und Thom. Die Verheißung der Wahrheit im Schlussbild – „The Truth Some Day“ – ist eine durch und durch christliche Geste. Das Kino des Wim Wenders’ hat seinen Ort im Himmel, nicht mehr auf Erden.