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Archiv-Artikel

Der Sound der Transparenz

Berliner Ensembles (2): Lothar Zagrosek erfindet das ehrwürdige Konzerthausorchester neu, unter anderem mit einer spektakulären Inszenierung von Walter Braunfels’ Oper „Die Vögel“

VON BJÖRN GOTTSTEIN

Hoppla. Habe ich mich am Ende verlaufen? Völlig irritiert rennt man in eine große Tribüne hinein, die wie ein Fremdkörper zwischen dem Stuck, den Kronleuchtern und den Komponisten-Büsten aufragt. Wo bitte sind die Samtstühle, auf denen es sich der Konzerthaus-Besucher sonst bequem zu machen pflegt? Es ist Montagvormittag. Zwischen zwei Proben werden gerade die Bühnenelemente aufgestellt, eingerichtet, festgezurrt. Lothar Zagrosek sitzt mit seiner Regisseurin, Sabrina Hölzer, auf der Zuschauertribüne und bespricht den Ablauf der anstehenden Premiere. Die Oper „Die Vögel“ von Walter Braunfels steht am Wochenende auf dem Programm, ein selten zu hörendes Werk aus dem Jahre 1920, mit dem Braunfels einen klassischen Text von Aristophanes parabelhaft auf die damalige Gegenwart übertrug. Im Konzerthaus sind „Die Vögel“ als „konzertante Operninstallation“ zu sehen – eine ungewöhnliche Darbietungsform, bei der nicht nur der Zuschauer auf seinen gepolsterten Sessel verzichten muss. Die Sänger agieren auf Turm-ähnlichen Bauten, und die Handlung wird in Videobildern angedeutet.

Seit 2006 ist Lothar Zagrosek Chefdirigent des Berliner Konzerthausorchesters. Mit ihm begann am Gendarmenmarkt eine neue Ära. Nicht, weil er die Stühle aus dem Saal reißen lässt und eine Videoleinwand über der Bühne installiert, sondern weil Zagrosek eine eigene Vision vom modernen Orchester vertritt. Das schlägt sich nicht nur in neuen Konzertformaten, sondern auch im Repertoire und in der Spielkultur nieder.

Dazu muss man wissen, dass das Renommee des Konzerthausorchesters auf ganz anderen Voraussetzungen beruht. Als Berliner Sinfonie-Orchester wurde es 1952 als repräsentativer Klangkörper im Osten Berlins gegründet. Als man dann 1960 Kurt Sanderling als Maestro von Leningrad an die Spree holte, begann die große Zeit des BSO. Sanderling, bis 1977 Chefdirigent, war einer der letzten Vertreter der deutschen romantischen Tradition, was ein, im besten Sinne des Wortes, gediegenes Vortragsideal zur Folge hatte. Schwer und voller Emphase kommen die Aufnahmen dieser Jahre daher, in deren Zentrum Komponisten wie Brahms und Mahler standen, aber auch Schostakowitsch, mit dem Sanderling eng befreundet war. Dieser Ruf ist dem BSO geblieben; auch weil die Dirigenten, die folgten, dem Orchester nie wieder einen solchen Stempel aufdrücken konnten: Günter Herbig, Claus Peter Flor, Michael Schønwandt, Eliahu Inbal.

Der Klang eines Orchesters, erklärt mir Ernst-Burghard Hilse, der seit 1977 als Flötist im Orchester ist, hänge eigentlich immer nur von einem einzigen Kriterium ab, dem Chefdirigenten. Jeder neue Dirigent habe auch einen neuen Ton ins Orchester eingeführt. Und der jetzige, mehr zur Transparenz neigende Klang sei Zagrosek geschuldet. Es haben aber auch noch andere Faktoren zum veränderten Klangbild beigetragen, ergänzt Gabriele Bühler, die als Leiterin des Fördervereins „Zukunft Konzerthaus“ und engagierte Besucherin mit anderen Ohren hört. Vor allem unter Inbal habe sich das Orchester spürbar verjüngt und internationalisiert. Und das schlage sich eben auch in den Konzerten nieder.

Bühlers Förderverein engagiert sich dort, wo die Grundfinanzierung nicht hinreicht – die Kostüme einer halbszenischen Darbietung, die Jugendförderung oder die ehrenamtliche Kinderbetreuung während der sonntäglichen Mozart-Matineen. All das, sagt Bühler, ist heute genauso wichtig wie ein Brahms- oder ein Mahler-Zyklus. Denn den spielen alle großen Orchester in Berlin auf hohem Niveau.

Natürlich hat es das Konzerthausorchester, wie alle fünf großen Sinfoniker der Stadt, schwer, sich zu behaupten. Neben den Berliner Philharmonikern wirkte das BSO lange wie ein restaurativ agierendes Gegenmodell, was gut mit dem prunkvollen Konzertsaal am Gendarmenmarkt, der 1984 als feste Spielstätte hergerichtet wurde, einherging. Das Publikum wusste gerade das zu schätzen und dankte es auf seine Weise: Die Publikumsbindung von 13.000 Abonnenten sucht deutschlandweit ihresgleichen. Aber auch Abonnenten kommen in die Jahre; die Hälfte der Regelmäßigen sind über siebzig Jahre alt. Und genau da setzen die Reformbestrebungen Zagroseks an.

Zagroseks Antrittskonzert verbrachte das Publikum im Stehen; auf der Bühne stand damals der US-amerikanische Slam-Poet Saul Williams. Die Musiker und die Hörer müssen sich seither an die Nischen des Repertoires gewöhnen. Zagrosek hat sich vor allem als Interpret zeitgenössischer Musik und als Operndirigent einen Namen gemacht. Als Generalmusikdirektor führte er die Staatsoper Stuttgart, die in diesen Jahren fünf Mal zum Opernhaus des Jahres erkoren wurde, zu revolutionärem Ruhm. Jetzt erklingt also auch im Berliner Konzerthaus nicht mehr die Brahms-Sinfonie, sondern selten zu hörende Werke der Frühklassik oder zeitgenössische Musik. Während der Proben wird dann auch schon mal über ein Vibrato diskutiert oder die Bogenführung neu überdacht, gibt Zagrosek zu verstehen. Als Uraufführungsdirigent ist er es gewohnt, Werke aus der Partitur heraus, ohne Referenzaufnahme, zu imaginieren und sich mit jedem Takt zu fragen: „Was hat der Komponist gewollt?“

So entstehen bisweilen auch ungewöhnliche Lesarten etablierter Werke, wie der aufgeklärte, an der historisch informierten Aufführungspraxis orientierte Beethoven, mit dem das Konzerthausorchester zuletzt überzeugte. Die Aufführung der Braunfels-Oper an diesem Wochenende ist ein weiterer Schritt, der die Spielstätte Konzerthaus aktualisieren soll. An dieser einen Inszenierung wird man das Projekt der Modernisierung des Apparats nicht messen. Ob sich das Konzerthausorchester, wie Zagrosek es sich wünscht, einst als das innovativste unter den Berliner Orchestern gelten wird, wird sich erst in einigen Jahren zeigen.

Walter Braunfels, „Die Vögel“. Konzerthausorchester Berlin, heute und morgen, 20 Uhr. Konzerthaus Berlin am Gendarmenmarkt