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Archiv-Artikel

Anklage erschüttert

Überraschende Wende in Prozess um 11. September. Verfassungsschützer: Hamburger Gruppe um Atta hat Anschlagspläne gar nicht selbst entwickelt

aus Hamburg ELKE SPANNER

Kurz vor seinem geplanten Abschluss hat der Hamburger Prozess um die Anschläge vom 11. September 2001 gestern eine überraschende Wendung genommen. Der Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz, Heinz Fromm, hat vor dem Hanseatischen Oberlandesgericht eine Version der Attentatsvorbereitung zu Protokoll gegeben, die der Anklage gegen Abdelghani Mzoudi in entscheidenden Punkten widerspricht.

Nach den Erkenntnissen der Verfassungschützer hat die Hamburger Gruppe um den Hauptattentäter Mohammed Atta nicht selbst im Frühjahr 1999 die Idee entwickelt, mit entführten Flugzeugen ins World Trade Center und ins Pentagon zu fliegen. Vielmehr hätten die Hamburger erst Ende 1999 in Afghanistan von dem entsprechenden Plan der Al-Quaida-Führung erfahren. Die Bundesanwaltschaft glaubt dagegen, dass Mzoudi schon im Laufe des Jahres 1999 in die Pläne der „Hamburger Zelle“ eingeweiht war.

Der Version der Bundesanwälte war das Gericht im weltweit ersten Verfahren um die Anschläge gefolgt. Im Februar hat es Mounir El Motassadeq, einen Freund des jetzt angeklagten Mzoudi, zu 15 Jahren Gefängnis verurteilt. Motassadeq soll Beihilfe zum 3.045-fachen Mord geleistet haben und Mitglied in der terroristischen Vereinigung „Harburger Zelle“ gewesen sein. Wie Mzoudi soll auch er im Laufe des Jahres 1999 von Atta und seinen Komplizen in deren Attentatsplan eingeweiht worden sein und ihnen bei der Vorbereitung Hilfe geleistet haben.

Als Hauptindiz galt dem Gericht eine Szene, die sich im Februar oder März 1999 in der Universitätsbibliothek abgespielt haben soll. Dort soll der spätere Todesflieger Marwan Al Shehhi in einem Wutausbruch der Bibliothekarin gegenüber angekündigt haben, dass in den USA bald sehr viel Blut fließen werde. Auch von Flugzeugen und vom World Trade Center soll bereits die Rede gewesen sein. Daraus hatte das OLG gefolgert, dass die Hamburger Gruppe den Attentatsplan damals bereits gefasst hatte und jedenfalls enge Freunde wie Motassadeq und Mzoudi eingeweiht waren.

Dem Gericht waren die Ermittlungsergebnisse des Verfassungsschutzes bei seinem Urteil offenbar unbekannt. Laut dessen Präsidenten Fromm ist schon im Verfassungsschutzbericht für das Jahr 2002 nachzulesen, dass der Geheimdienst andere Erkenntnisse hat. Demnach wurde die Idee, mit entführten Flugzeugen das World Trade Center und das Pentagon zu sprengen, in Afghanistan entwickelt und den Hamburgern erst Ende 1999 in einem militärischen Ausbildungslager in Afghanistan mitgeteilt.

So hat es auch der inzwischen in den USA inhaftierte mutmaßliche Kopf der Hamburger Gruppe, Ramzi Binalshibh, vor seiner Festnahme im Herbst 2002 in einem Interview mit dem Fernsehsender Al Dschasira berichtet. „Alle Fachleute halten das Interview für authentisch“, sagte Fromm gestern. Die Aussagen Binalshibs würden zudem durch weitere Informationsquellen des Verfassungsschutzes gestützt.

Laut Fromm waren die Hamburger Studenten um Atta Ende1999 nach Afghanistan gereist, weil sie sich zu diesem Zeitpunkt radikalisiert und beschlossen hätten, sich am „heiligen Krieg“ zu beteiligen. Zunächst wollten sie offenbar in den Krieg nach Tschetschenien ziehen, hätten sich dann aber zur militärischen Ausbildung in Afghanistan entschlossen. Dort, so der Verfassungsschutzchef, „sind die aus Deutschland kommenden späteren Attentäter Ende 1999 Gegenstand der bereits bestehenden Planung geworden“. Woraufhin dem Vorsitzenden Richter Klaus Rühle die Bemerkung entfuhr: „Dann hätte Motassadeq freigesprochen werden müssen.“ Diese Ansicht teilt auch Mzoudis Verteidigung. Zumindest für ihren Mandanten hat sie Aufhebung des Haftbefehls beantragt. „Mit dieser Aussage ist die Zeitschiene der Anklage in sich zusammengebrochen“, sagte Anwältin Gül Pinar.