: Es geht um Sekunden
aus Braunschweig JÖRN KABISCH
Es geht nur um ein paar Sekunden. Nicht die Welt, möchte man meinen. Und doch haben sie im kleinen Kreis der Experten – den Wächtern der Zeit – einen Streit vom Zaun gebrochen. „Es geht um einen Paradigmenwechsel“, sagt Andreas Bauch (46).
Bauch ist so ein Wächter der Zeit. Der Physiker kontrolliert als Laborleiter die vier Cäsium-Atomuhren in der Physikalisch-Technischen Bundesanstalt in Braunschweig. Hier tickt die deutsche Zeit amtlich und nach den Buchstaben des Deutschen Zeitgesetzes von 1978.
Die Welt von Andreas Bauch ist deshalb – zumindest wenn man all die Diagramme, Tabellen und Formelreihen sieht, die sich auf seinem Schreibtisch stapeln und an Wänden und Schranktüren übereinander gehängt sind – eine Nanowelt. Die – von einem winzigen Cäsium-Atom geschaffen, dessen Strahlung seit 1956 der Bezugspunkt für die allgemeine Zeitmessung ist – beginnt an der zwölften Stelle hinter dem Komma und hört irgendwo nach der 15. Stelle auf.
„Die Erde eiert“
Und diese Welt hat sich selbstständig gemacht. Man könnte auch sagen, sie ist zu präzise geworden. Aber das ist eine Frage des Standpunktes, genauer: die Frage, wie eine Sekunde definiert wird. In unserem Alltagsverständnis ist eine Sekunde der 86.400. Teil eines Tages, einfach weil ein Tag 24 Stunden, eine Stunde 60 Minuten und eine Minute 60 Sekunden hat. Doch auch chronometrisch ist kein Erdentag wie der andere. Schon Immanuel Kant hat das 1754 vermutet: Wegen des Mondeinflusses und der Reibung durch die Gezeiten verlangsamt sich die Erdrotation unregelmäßig. „Die Erde eiert“, wie Andreas Bauch sagt. Die Tage werden immer länger.
Fast die gesamte Wissenschaft hat sich deshalb auf eine andere Uhr festgelegt: das gleichmäßig strahlende Cäsium. Nur die Astronomen halten immer noch an der alten Zeit fest. Sie befürchten, sonst ihre Sterne nicht mehr zu finden. Kein Wunder, die Atomzeit geht inzwischen um 32 Sekunden vor.
Vor allem wegen der Astronomen lässt die internationale Zeitmessung die unruhige Erde nicht außer Acht. Deren Rotation wird sogar von einer eigenen Behörde überwacht, dem International Earth Rotating Service (IERS) in Paris. Immer wenn die Erdzeit um 0,9 Sekunden hinter der Atomzeit zurückliegt, verfügt IERS eine Schaltsekunde. Das geschieht alle ein bis zwei Jahre. Die Hüter der nationalen Zeiten stellen dann ihre Uhren um eine Sekunde vor. In der Regel heißt diese Schaltsekunde dann 23:59:60 Uhr, danach folgt 0:00:00 Uhr. Die letzte Korrektur gab es 1999. Viele Computer allerdings, die mit Leichtigkeit auf Sommer- oder Winterzeit wechseln, haben ausgerechnet mit der Schaltsekunde Probleme. Und ihre Programmierer erzählen davon gruselige Geschichten, als stünde ein neues Jahr-2000-Problem vor der Tür. Sie fordern die Abschaffung der Schaltsekunde.
Eine dieser Geschichten spielt im New Yorker Büro der Nachrichtenagentur AP: 1996 begannen dort an Silvester die Rechner zu spinnen. Die Computer hatten keine eigene Uhren, sondern waren an die offizielle US-Zeit, wie in Deutschland ein Funksignal, angeschlossen. Das funkte den üblichen Code für die Schaltsekunde: 23:59:60 Uhr. Aber so wie viele andere Rechner auch konnten die AP-Rechner nur bis 59 zählen. Sie interpretierten die Schaltsekunde als Beginn des nächsten Tages, also 00:00:00 Uhr am 1. Januar. Eine Sekunde später bekamen sie erneut das Funksignal, es sei 00:00:00 Uhr, und schalteten wieder einen Tag um. Der 1. Januar 1997 hatte bei AP nur eine Sekunde gedauert.
Über die Forderung der Softwareentwickler nach Abschaffung der Schaltsekunde kommt es nun unter Zeitmessern zur Kontroverse. Derzeit brütet die Arbeitsgruppe 7a der Studiengruppe 7 der International Telecommunication Union (ITU) über die Zukunft der Schaltsekunde. Die ITU ist eine UN-Behörde mit Sitz in Genf und bestimmt die Zeitnorm, nach der sich alle Welt richtet.
Andreas Bauch, selbst Mitglied in der 7a-Gruppe, hält die Argumente der Softwareingenieure, vor allem Geschichten wie die von AP, nicht für stichhaltig. „Da haben einfach ein paar von denen gepennt.“ Und er erzählt von den Astronomen, die ähnliche Storys auf Lager haben.
„In tausend Jahren eine Stunde“
Einer der vehementesten Befürworter der Schaltsekunde heißt Steve Allen. Er arbeitet am Observatorium im kalifornischen Santa Cruz. Allen befürchtet nicht nur, dass die „Sternenerfassungssysteme der Teleskope ausfallen“, wenn die Welt nach Atomzeit tickt. Er hat auch ausgerechnet, wie weit die Erdzeit abweichen würde: „In 1.000 Jahren wird der Unterschied eine Stunde betragen.“
Dieses Argument gibt auch Andreas Bauch zu denken: „Wir müssen uns entscheiden, ob wir mit der Tradition brechen wollen, die Zeit an unsere Umgebung zu binden“, sagt er.
Und diese Tradition ist uralt. In der römischen Zeit beispielsweise war eine Stunde einfach ein Zwölftel der Zeit, in der es hell war, im Sommer also sehr viel länger als im Winter. Seitdem ist es in der Geschichte der Menschheit immer wieder zu „Zeitkriegen“ gekommen, wie der amerikanische Kulturhistoriker Robert Levine schreibt. Im Zuge der Französischen Revolution etwa beschloss die Nationalversammlung 1793 eine neue Zeitrechnung mit Dezimalsystem: Die Stunde sollte fortan 100 Minuten haben, der Tag 10 Stunden und die Woche 10 Tage. Innerhalb wie außerhalb Frankreichs stieß diese neue Einteilung auf Ablehnung, unter anderem, weil sie die Sonntage im Jahr von 52 auf 36 verringerte. Nach dreizehn Jahren wurde der so genannte Revolutionskalender wieder abgeschafft.
„Nach Cincinnati-Zeit“
Die Sonne war noch bis weit ins 19. Jahrhundert hinein die Richtschnur, nach der man die Uhr stellte. Noch 1860 gab es deshalb beispielsweise in den USA über 70 Zeitzonen. Erst die zunehmende Industrialisierung machte es notwendig, die Zeit zu standardisieren. Die Eisenbahn etwa hatte enorme Probleme, ihre Fahrpläne zu erstellen. Wegen der von Ort zu Ort unterschiedlichen Uhrzeiten tuckerte ein Zug manchmal im Schritttempo, raste mit Überschallgeschwindigkeit oder bewegte sich sogar rückwärts in der Zeit. Als 1883 per Gesetz die heute noch verbindlichen vier Zeitzonen in Nordamerika eingeführt wurden, führte das zu lautstarker Kritik: Die Commercial Gazette in Cincinnati, Ohio, etwa, wo die Uhr mit der Standardisierung um 22 Minuten zurückgedreht wurde, veröffentlichte noch sieben Jahre lang Zugfahrpläne unter der Überschrift „Nach Cincinnati-Zeit. 22 Minuten schneller als Eisenbahnzeit.“
Zeitgewohnheiten sterben also nur sehr langsam, und wie Zeit definiert, angezeigt und gemessen wird, ist manchmal schon fast eine Sache der religiösen Überzeugung. Bis heute. Selbst die Digitalanzeige, die in den 70er-Jahren des 20. Jahrhunderts die Uhr zu erobern versuchte, traf auf Widerstand. Viele Menschen wollen sich vom alten Zifferblatt nicht trennen. „Wenn ich auf mein Handgelenk schaue, werde ich daran erinnert, dass die Erde in Bewegung ist“, meinte dazu 1987 der amerikanische Wissenschaftsjournalist Joseph Meeker. „Digitale Uhren drücken keinen solchen Zusammenhang aus.“
In diesem Sinne könnte man die Digitaluhr also als Anfang des Übels bezeichnen, dass die Menschheit den Zusammenhang von Erde und Zeit vergisst. Aber „darf deswegen die heutige Generation entscheiden, dass künftige Generationen ihre Uhr nicht mehr nach der Sonne stellen wollen?“, fragt der Astronom Steve Allen.
„Eine Zeit für alle“
„Manches wird ein bisschen sehr aufgebauscht“, sagt dazu Andreas Bauch in der Bundesanstalt. Und erklärt, dass sich ein Großteil der bürgerlichen Zeit bereits heute von der astronomischen Zeit abgewandt hat. Denn auf dem Globus gibt es ganz unterschiedliche so genannte Zeitskalen. Neben der Atomzeit, der astronomischen oder der Koordinierten Weltzeit existiert ja auch noch die GPS-Zeit. In den 28 Satelliten dieses amerikanischen Navigationssystems ticken auch einige Atomuhren, und ihr Zeitsignal wird nicht nur von Bordcomputern in Flugzeugen, Schiffen und Autos verwendet, sondern auch in großen Rechnernetzwerken. Als das System 1980 startete, wurde es nach der Koordinierten Weltzeit gestellt. Die 13 Schaltsekunden, die seitdem vom IERS verfügt wurden, sind aber nicht in die GPS-Zeit eingegangen. Die Satellitensoftware hat da ähnliche Probleme wie die AP-Computer. Und wegen der immer stärkeren Vernetzung von Rechnern auf dem Globus warnt so mancher vor den Gefahren, wenn Systeme mit unterschiedlichen Zeiten aufeinander treffen.
Einer davon ist William Klepczinski, ebenfalls Astronom, der in der Gruppe 7a sitzt. „Es gibt schon einige kleine technische Probleme, die ihre Köpfe in die Gesellschaft strecken. Bevor daraus große Probleme werden, sollten wir eine Zeit für alle haben.“
Bis dahin aber wird wohl noch Zeit vergehen. Die Studiengruppe 7a will erst 2006 einen Vorschlag zur Lösung des Schaltsekundensystems abgeben. Eine Variante, die die Runde zuletzt diskutiert hat, ist, die Schaltsekunde im Jahr 2022, an ihrem 50. Geburtstag, abzuschaffen. Das würde den Astronomen Zeit geben, ihre Software von der Koordinierten Weltzeit abzukoppeln.
Andreas Bauch lässt noch offen, wie er selbst sich entscheiden wird. Präzisere Uhren werden immer gebraucht, sagt er und verschwindet in sein Labor.