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Archiv-Artikel

Wir könnten uns den Sozialstaat leisten

Große Konzern zahlen immer weniger Steuern. Ernst Schmiederer und Hans Weiss zeigen, mit welchen Tricks sie das schaffen – und wie ihnen unsere Steuergesetze dabei helfen

Man ist sich einig, vom Industrieboss bis zum Kommentator: Die Steuern sind zu hoch. Der Sozialstaat ist unfinanzierbar. Der Staat wuchert aus. Die Leidtragenden sind „wir alle“ – die größte Gefahr sind „Tax and spend“- Sozis. Gegen Empirie sind die „Steuern runter“-Ideologen weitgehend immun.

Dennoch: Jetzt kann ihnen geholfen werden. In ihrem Buch „Asoziale Marktwirtschaft“ haben die Journalisten Ernst Schmiederer und Hans Weiss akribisch zusammengetragen, „wie Konzerne den Staat ausplündern“. Kurz gefasst: Der Sozialstaat ist vielleicht pleite, aber das Geld ist nicht weg – es ist nur in den Taschen der Großkonzerne.

Gut recherchiert, flott geschrieben, eine Prise reißerisch ist der Report. Hans Weiss hat Erfahrung mit dem Metier: Von den „Bitteren Pillen“ bis zum „Schwarzbuch Markenfirmen“ war er meist bei Recherchen dieser Art mit von der Partie. Diesmal ist Ernst Schmiederer der Koproduzent, der sich als New-York-Korrespondent des Wiener Nachrichtenmagazins profil einen Namen gemacht. In ganz Europa haben die Autoren sich auf die Suche begeben, um den Steuertricks der Multis auf die Schliche zu kommen, sich dabei aber vor allem an Beispiele gehalten, die ihr deutschsprachiges Publikum besonders interessieren.

So hat sich Weiss als reicher Erbe ausgegeben und ist nach Jersey zur Beratung bei der lokalen Tochter der Deutschen Bank geflogen. Diese britische Kanalinsel ist wie ein paar andere Offshore-Steuerparadiese berüchtigt als Anlaufstelle für all jene, die ihre Millionen im Schonwaschgang versteuern wollen. Ernst Schmiederer wiederum tarnte sich als Vertreter einer slowenisch-amerikanischen Investorengruppe und machte sich auf Bürosuche in dem norddeutschen Kuhdorf Nordfriederichskoog, dessen Gewerbesteuersatz jahrelang bei exakt Null lag. Jener Umstand sorgte dafür, dass der Ort eine magische Anziehungskraft auf deutsche und internationale Konzerne hatte, die hier Briefkasten-Tochterfirmen ansiedelten.

Die Gewerbesteuern, die die Firmen auf diesem Weg sparten, fehlten anderswo – in diesem Fall den Gemeinden, in denen diese Firmen bisher residierten und Steuern zahlten. 800 Millionen Euro, schätzungsweise, gingen deutschen Kommunen allein durch den Fall Nordfriederichskoog pro Jahr verloren.

Die Verlegung der Konzernzentrale in ein Mansardenzimmer über einem stinkenden Kuhstall ist eines der eher skurrileren und unterhaltsameren Beispiele für eigenwillige Steuersparmodelle der großen Konzerne. Beliebt und gängig ist bei international tätigen Unternehmen, die internen Verrechnungspreise zwischen Mutterfirmen und lokalen Tochtergesellschaften völlig freihändig zu gestalten, so dass in relativen Hochsteuerländern Jahr für Jahr nur „Verluste“ anfallen, und sich alle „Gewinne“ in Niedrigsteuerländern anhäufen. Eine andere Variante besteht in der rechnerischen Verschuldung der Tochter bei der Mutterfirma, so dass als Folge hoher Zinsberechnungen kein Gewinn mehr anfällt. Der Gewinn wird so spielend und völlig legal in Steuerparadiese transferiert, in die Schweiz, nach Island oder am besten gleich nach Mauritius.

Die Folgen dieser Operationen sind längst dramatisch, auch weil die Regierungen – hektisch bemüht, die Konzerne von der Abwanderung abzuhalten –, seit Jahren Unternehmenssteuern senken oder die Steuergesetze so gestalten, dass sie gute Möglichkeiten zur kreativen Gestaltung bilden. Viele deutsche Kommunen stehen vor dem Aus. Vor vierzig Jahren kamen noch 20 Prozent des Steueraufkommens aus Gewinn- und Vermögenseinkommen, heute gerade noch 6 Prozent. 1983 trug die Körperschaftssteuer noch 14 Prozent zum deutschen Steueraufkommen bei, heute schlappe 2,3 Prozent.

Nahezu unfassbar sind die Beispiele, die Weiss und Schmiederer zusammengetragen haben: So zahlte die Deutsche Bank jahrelang keine Ertragssteuern mehr, sondern erhielt stattdessen Steuererstattungen. Ebenso Siemens: Das Vorzeigeunternehmen erhielt von 2001 bis 2003 sage und schreibe 119 Millionen Euro Steuererstattung. DaimlerChrysler zahlte über ein Jahrzehnt lang keinen Cent an Gewerbesteuern in Stuttgart oder Sindelfingen. Auch der Lebensmittelmulti Unilever (Knorr, Pfanni) liebt es, die Euros so zu schleusen, dass skandalös wenig für den Fiskus rausspringt.

Gewiss ist es ein frommer Wunsch: Dass das Gerede aufhören möge, „wir“ könnten uns den Sozialstaat nicht mehr leisten. Wahr ist: Wir können uns die zeitgenössische Finanzpolitik nicht mehr leisten. ROBERT MISIK

Ernst Schmiederer/Hans Weiss: „Asoziale Marktwirtschaft. Insider aus Politik und Wirtschaft enthüllen, wie die Konzerne den Staat ausplündern“. Kiepenhauer & Witsch, Köln 2004, 250 Seiten, 19,50 €