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Archiv-Artikel

Wir wollen letztlich frei sein

Nach dem Überbau des „Empire“ betrachten Michael Hardt und Antonio Negri in ihrem neuen Buch die Basis: die „Multitude“. Statt soziale und politische Konstellationen präzise zu analysieren, bieten sie jedoch nur normativ aufgeladene Glaubenssätze an

VON RUDOLF WALTHER

Die lautstarke Beschwörung des Endes der großen Theorien und „Meistererzählungen“ wirkte in den 80er-Jahren auf viele wie eine Befreiung. Des Theoriegepäcks der Moderne entledigt, sollte der beschwingte Tanz der fröhlichen Sozialwissenschaftler in die Idylle der Postmoderne beginnen. Mit dem Fall der Berliner Mauer und dem Zerfall des Ostblocks erhielt die postmoderne Wende eine politische Zuspitzung. Zumal von konservativer Seite hieß es nun, die Zeit für politische Alternativen und soziale Utopien sei endgültig vorbei. Man habe sich in dem einzurichten, was da sei.

Der amerikanische Politikwissenschaftler Francis Fukuyama dachte bereits an das „Ende der Geschichte“, weil die Welt des Liberalismus alternativlos geworden sei. Und alle wollten plötzlich dazu gehören; oppositionelles und nonkonformistisches oder gar radikales Denken waren weithin verpönt und galten als Anachronismus, der in der Regel mit der wohlfeilen Chiffre „68“ etikettiert wurde.

Doch Kriege und Bürgerkriege, Hunger und Massenverelendung, weltwirtschaftliche Verwerfungen und die terroristischen Anschläge in den USA ließen Zweifel an dieser neoliberalen Weltordnung aufkommen. Mit der schnell anwachsenden Protestwelle gegen die Wirtschaftspolitik von Weltbank und Weltwährungsfonds fanden Protest und Widerstand plötzlich ihre Sprache, eine neue Sprache, wieder.

Vor zwei Jahren erschien „Empire“, das Buch von Michael Hardt und Antonio Negri – der eine amerikanischer Literaturwissenschaftler, der andere italienischer Rechtsphilosoph mit schillernder politischer Karriere. Der weltweite Riesenerfolg ist vor dem eingangs skizzierten Hintergrund zu sehen. Eine irritierende Bandbreite von positiven Urteilen machte die Runde durch die Presse, noch bevor das Buch auf Deutsch vorlag. Für die New York Times füllte es „eine Lücke in den Humanwissenschaften“, für die FAZ setzte es „Marx’ Erzählung der Weltgeschichte fort“. Besonders begeistert äußerten sich politisch autonome und linksradikale Zirkel, die das Buch in ihren Zeitschriften und auf ihren Internetseiten viel diskutierten.

Das vorwiegend affirmative Echo von den Konservativen bis zu den Linksradikalen dürfte damit zusammenhängen, dass das Buch ein Vakuum füllt, das in den letzten zehn Jahren entstanden ist. Die gebetsmühlenhaft wiederholte neoliberale Globalisierungspropaganda wird angesichts der tatsächlichen Zustände in der Welt nicht nur unglaubwürdig, sondern hat das Publikum auch verunsichert. Darauf antworten die Autoren von „Empire“ mit ebenso meinungsstarken wie handfesten Orientierungshilfen: Ein anderes Leben für alle ist möglich. So der sympathische Grundton des Buches.

Jetzt ist, unter dem Titel „Multitude“ die Fortsetzung von „Empire“ erschienen. Beide Bücher verstehen sich als „philosophische Bücher“, was die Autoren konsequent so interpretieren, dass sie sich mit empirischen sozialen Fakten und realen gesellschaftlichen Prozessen nicht zu beschäftigen brauchen. Sie operieren, mit Benjamin gesagt, „drüben“, um nicht zu sagen „im Trüben“. Wie „Empire“ ist auch die „Multitude“ kein Tatbestand, sondern eine „Tendenz“. Das alte wie das neue Buch bewegt sich im Rahmen einer „Ontologie des Möglichen“, etwas weniger geschwollen ausgedrückt: im Rahmen von frei schwebender geschichtsphilosophischer Spekulation.

Die Signatur des „Empire“ ist die souveräne Macht, die über Leben und Tod entscheidet, und das heißt in der Epoche der bewaffneten Globalisierung: über Krieg. Für Hardt und Negri bildet der Krieg „das Organisationsprinzip der Gesellschaft“, von dem die permanente Drohung mit „Massenvernichtung“ ausgeht. Die Autoren nennen die Herrschaft des „Empire“ deshalb ein „Regime der Biomacht“. Biomacht ist also zunächst ein Synonym für Krieg.

Der Gegenspieler des „Empire“ ist die „Multitude“ – die Menge – für deren Charakterisierung die Autoren eine Vielzahl von Beschreibungen und Metaphern anbieten. „Multitude“ steht für „Selbstregierung“, „Widerstand“ und „lebendiges Fleisch“, um nur drei der zahlreichen Begriffe zu nennen, die Hardt und Negri aufbieten. Im Kern handelt es sich bei der „Multitude“ um einen theologischen Begriff, denn wie Gott wird sie nicht gemacht, sondern ist eigentlich immer schon da und umfasst Anfang, Ende und Gegenwart.

Andererseits verdankt sich die „Multitude“ einer historischen Konstellation, nämlich dem, was die Autoren „biopolitische Produktion“ nennen. Sie meinen damit den Überschuss an immateriellen Gütern, der bei normaler Arbeit anfällt. Menschliche Arbeitskraft verwendet und erzeugt neben dem materiellen Produkt immer auch immaterielle Überschüsse in Form von Informationen, Ideen, Bildern, Beziehungen und Affekten. Besonders ausgeprägt ist dieser Überschuss in den Bereichen, in denen die modernen Informationstechnologien eine große Rolle spielen.

In diesen immateriellen Überschüssen verdichten sich für Hardt und Negri „neue Subjektivitäten und neue Formen des Lebens“, im Kern „die neue Menschheit“ – jenseits von Armut, Ausbeutung und Herrschaft. Denn auf „biopolitischem Terrain“ herrschen Gleichheit und die Herrschaft aller, kurzum die „absolute Demokratie“. Den Abgrund zwischen dieser spekulativen Behauptung und der Analyse realer gesellschaftlicher Prozesse füllen die Autoren gern mit dem Verlegenheitswort „letztlich“: So ist die biopolitische Produktion minoritär und gar nicht messbar, aber „letztlich“ doch hegemonial.

Hardt und Negri scheuen weder Spekulation noch Pathos: „Je mehr heutzutage […] die gesellschaftliche Produktion durch immaterielle Arbeit bestimmt ist, also durch Kooperation und durch die Entwicklung von sozialen Beziehungen und Kommunikationsnetzwerken, desto stärker wird das Handeln aller in der Gesellschaft – die Armen eingeschlossen – unmittelbar produktiv.“

Die Armen bilden nicht nur „die ontologische Bedingung“ für den Widerstand, sondern auch eine „biopolitische Macht,“ insofern ihr „gemeinsames Sein,“ ihre Mobilität und ihre Kommunalität das „Empire“ und dessen „Biomacht“ permanent bedrohen. Befeuert wird diese Hoffnung von purem Voluntarismus: „Wir müssen uns entscheiden, ob wir freie Männer und Frauen oder ob wir Sklaven sein wollen.“ So Wilhelm-Tell-mäßig und rustikal versimpelt kommt heute nur noch „Philosophie“ daher, die sich den Umweg über Wissen und Forschung erspart.

In den globalisierungskritischen Protestbewegungen, wie sie in den letzten Jahren in Seattle, Porto Alegre oder Genua auftraten, sehen Hardt und Negri Netzwerke des weltweiten Widerstandes gegen die Biomacht am Werk und insofern die Keimzellen einer Demokratie ganz neuen Typs. Diese kommt ohne Souveränitätsdoktrin und Verfassung aus. In der „Multitude“ behält zwar jeder seine Singularität, aber Arbeit, Leben und Kultur verschmelzen zu dem, was die beiden Autoren „das Gemeinsame“ nennen. Für sie ist das Gemeinsame „ein Fleisch, das kein Körper ist, ein Fleisch, das gemeinsame lebendige Substanz ist“.

Die Frage freilich, wie diese „lebendige Substanz“ vom Status des Spekulativ-Möglichen – also kategorisch Unlebendigen – zur Wirklichkeit wird, delegieren die beiden Philosophen an die Praxis. Statt einer präzisen Analyse der sozialen und politischen Konstellationen, die einen realen sozialen Träger und Akteur der „Multitude“ hervorbringen, bieten die Autoren nur normativ aufgeladene Glaubenssätze an. Eine „kommode Religion“, sagt Büchners Valerio, genügt dem Menschen, wenn Gott für „Makkaroni, Melonen und Feigen“ sorgt.

Michael Hardt/Antonio Negri: „Multitude. Krieg und Demokratie im Empire“. Aus dem Englischen von Thomas Atzert und Andreas Wirthensohn, Campus Verlag, 412 Seiten, Frankfurt 2004, 34,90 €